Mit Demenz zu Hause leben
Die eigenen vier Wände geben Sicherheit – die Menschen mit Demenz dringend brauchen. Worauf es ankommt, damit sie möglichst lange in der vertrauten Umgebung bleiben können, zeigt die AOK Rheinland/Hamburg in einer bundesweit einmaligen Musterwohnung. Von Dr. Silke Heller-Jung
Seit der Eröffnung
der Musterwohnung geben sich die Besucher im nordrhein-westfälischen Jülich die Klinke in die Hand. Die liebevoll eingerichteten Räume vermitteln Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen, aber auch angehenden Pflegekräften, welche Probleme im Alltag auftreten können und welche Lösungen es dafür gibt. „Wir stellen hier viele kleine Alltagshilfen vor, die nicht viel Geld kosten und leicht umzusetzen sind“, erklärt Stefanie Froitzheim. Sie leitet die Servicestelle Demenz der AOK Rheinland/Hamburg in Jülich, unter deren Dach die Musterwohnung angesiedelt ist.
Die Servicestelle feierte 2018 ihr zehnjähriges Bestehen. Ein 13-köpfiges Team aus Pflegefachkräften, Sozialpädagoginnen und Sachbearbeiterinnen unterstützt Versicherte mit demenziellen Veränderungen und deren Angehörige bei der Versorgungsplanung, hilft ihnen, Anträge zu stellen, und steht ihnen während des gesamten Pflegeprozesses beratend zur Seite.
Wohnung an die Bedürfnisse anpassen.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Musterwohnung. „Die meisten Menschen möchten so lange wie möglich zu Hause leben“, weiß Stefanie Froitzheim. „Darum zeigen wir, wie man die eigenen vier Wände mit einfachen Mitteln an die Bedürfnisse demenziell veränderter Menschen anpassen kann.“
Als das Projekt im Herbst 2016 Gestalt annahm, hätten sie und ihre Kolleginnen nicht erwartet, wie gut dieses Angebot angenommen werden würde. „Zum Welt-Alzheimertag vor zwei Jahren haben wir uns von der Diakonie Hamburg deren mobile Demenz- Musterwohnung ausgeliehen“, erinnert sich die AOK-Expertin. „Schließlich hatten wir die Idee, dieses Konzept zu erweitern.“
Pünktlich zum Aktionstag war die Jülicher Variante der Musterwohnung fertig. Der Besucherandrang übertraf alle Erwartungen. Binnen zwei Wochen hatten sich mehrere hundert Menschen die Räume angesehen, und ebenso viele standen auf der Warteliste. Schnell war die Entscheidung gefallen: Die Demenzwohnung in Jülich wird zu einer dauerhaften Einrichtung um- und ausgebaut.
Zur rechten Zeit kam für die Servicestelle Demenz die Auszeichnung der „Rudi-Assauer-Initiative Demenz und Gesellschaft“ im Dezember 2016: Von dem Preisgeld wurden Simulationsgeräte angeschafft, die gesundheitliche Einschränkungen erfahrbar machen: Kopfhörer mit einem Tinnitusgeräusch etwa oder Handschuhe, die die Hände permanent zittern lassen. Zudem nutzte das Team der Servicestelle Demenz Haushaltsauflösungen und Online-Marktplätze für den Erwerb weiterer Möbelstücke und alter Haushaltsgeräte. Spenden von Besuchern kamen hinzu. Heute ist die Musterwohnung rund 170 Quadratmeter groß und umfasst Wohn-, Ess- und Schlafzimmer, Küche, Diele und Bad.
Rundgang mit Rollenspiel.
An einem Mittwochvormittag ist eine Gruppe angehender Altenpflegerinnen bei AOK-Pflegeexpertin Petra Linden zu Gast. An der Garderobe hängen Jacken und ein Mantel. Ein Zettel neben der Tür erinnert daran, den Haustürschlüssel mitzunehmen.
„Für den Fall, dass sich der Betroffene unterwegs nicht mehr zurechtfindet, kann es sinnvoll sein, in der Kleidung Aufkleber oder -näher anzubringen“, sagt Petra Linden und zeigt ein solches Etikett im Mantelfutter, das den Namen und die Anschrift von Trude Meier, der fiktiven Bewohnerin der Musterwohnung, ausweist. „Würden Sie das auch so machen?“ Eine Besucherin widerspricht: „Nein, die komplette Adresse würde ich auf keinen Fall darauf schreiben. Dann könnte ja jeder mit ihr nach Hause gehen und die Wohnung ausräumen.“ Die Pflegeexpertin bestätigt: Besser sei es, neben dem Namen der betreffenden Person nur eine Telefonnummer zu vermerken.
Wenn die Besucher solche Fehler selbst entdecken, sei der Lerneffekt besonders groß. In einigen Räumen sind kurze Rollenspielszenen eingeplant, bei denen ein vorher instruiertes Mitglied der Besuchergruppe in die Rolle der an Demenz erkrankten Trude Meier schlüpft. Heute übernimmt Melanie Wolters (Name von der Redaktion geändert) diesen Part.
Tipps für alle Räume.
Manche Menschen mit Demenz neigen dazu, aus einem Impuls heraus das Haus zu verlassen. Was man in diesem Fall tun kann, erklärt Petra Linden: Schlüsselreize wie Schuhe und Mantel außer Sicht verwahren; ein Glockenspiel an der Tür befestigen, das beim Öffnen läutet; die Ausgangstür in der gleichen Farbe wie die umgebende Wand streichen, hinter einem Vorhang verstecken oder mit einer bedruckten Folie als Bücherregal tarnen.
Darüber hinaus stellt die AOK-Pflegeexpertin technische Lösungen vor – von der Klingelmatte, die beim Darüberlaufen einen Signalton auslöst, bis zum Armband mit Ortungsfunktion. Die Pflegenden müssten immer wieder abwägen, was in der individuellen Situation nötig, angemessen und im Sinne des Pflegebedürftigen sei, betont Petra Linden.
Alles im Blick: Wenn das Geschirr sichtbar hinter Glas steht, fällt Menschen mit Demenz das Tischdecken leichter.
Auch für die Gestaltung des Badezimmers gibt es Empfehlungen: Auf den Ablagen sollte zur besseren Übersicht nur das Notwendigste stehen. Die Konturen von Waschbecken und WC sind mit farbigem Klebeband markiert, denn weiße Flächen erscheinen oft diffus, klare Kontraste dagegen sind gut zu erkennen. Ungünstig ist darum auch die weiße Häkeldecke auf dem Esszimmertisch: Ein Trinkglas ist darauf kaum zu sehen. Von der dunklen Tischplatte hebt es sich dagegen gut ab. Um das Tischdecken zu erleichtern, steht das Geschirr gut sichtbar hinter Glas. An den Schranktüren und Schubläden in Schlafzimmer und Küche verraten Aufkleber, was wo zu finden ist. „Bei starkem Bewegungsdrang kann ein Schaukelstuhl Abhilfe schaffen“, erklärt Petra Linden. Derweil dudelt ein Radio leise vor sich hin.
„Da ist jemand in der Wohnung“, ruft Melanie Wolters alias Trude Meier und blickt sich ängstlich um. Eine ihrer Mitschülerinnen rettet die Situation: „Das ist Herr Schmitz. Der hat sich bestimmt in der Tür geirrt“, sagt sie beruhigend und schaltet das Radio aus. „Gut gemacht“, lobt die Pflegeexpertin. „Diffuse Geräuschquellen sorgen oft für Unruhe und Ängste.“
Möglichkeiten für gemeinsames Tun.
„Gefühle begleiten einen Demenzkranken bis zuletzt“, erläutert Petra Linden.„Ganz wichtig ist das Gefühl, gebraucht zu werden.“ Bewährt haben sich dafür Beschäftigungsangebote, die an Hobbys oder die Berufstätigkeit anknüpfen. Einige Beispiele sind in der Wohnung zu finden: eine Büroecke mit Schreibmaschine; eine Werkbank mit Kistchen voller Schrauben; ein Wirrwarr aus bunten Wollfäden. „Auch Alltagstätigkeiten wie Wäsche falten oder Kartoffeln schälen sind oft noch lange möglich“, weiß die Pflegeexpertin. Fast noch wichtiger als die Tätigkeit selbst sei die damit verbundene Wertschätzung. Mit einer Abschaltautomatik versehen, könne auch der Elektroherd in der Küche noch eine Weile sicher genutzt werden. „Oder man kocht und backt zusammen“, schlägt Melanie Wolters vor. Stefanie Froitzheim stimmt zu: „Etwas gemeinsam tun, das ist meistens das Beste.“