Gedenken

Unser Ethos hat entsetzlich versagt

Während der Nazi-Herrschaft wurden auch Mediziner jüdischer Abstammung verfolgt und entrechtet. Schuldig machten sich damals viele – auch Teile der Ärzteschaft, erinnert Dr. Andreas Gassen. Das geschehene Unrecht sei deshalb Mahnung und Auftrag zugleich.

Als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933

in Deutschland die Regierungsgeschäfte übernahmen, war der Aufbau einer totalen Herrschaft längst abgemacht – ebenso eine aggressive und menschenverachtende Politik gegen die jüdische Bevölkerung. Das betraf von Anfang an auch Ärztinnen und Ärzte. Funktionsträger des ärztlichen Berufsstandes, die jüdischer Abstammung waren oder der politischen Opposition angehörten, wurden ihrer Ämter enthoben. Erklärtes und öffentlich benanntes Ziel des NS-Regimes war die komplette „Ausschaltung“ jüdischer und politisch andersdenkender Mediziner. Eine Repression folgte auf die nächste.

Seit April 1933 galt bereits ein Zulassungsentzug für jüdische und andersdenkende Kassenärzte. Es gab nur wenige Ausnahmen, etwa für jene Mediziner, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, oder für Kolleginnen und Kollegen, die bereits vor 1918 niedergelassen waren.

Im August 1933 wurde die Vorgängerorganisation der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) eingerichtet: die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD). Die KVD war am „Führerprinzip“ ausgerichtet und verwaltete die Ausgrenzung der verbliebenen jüdischen Kassenärzte: durch Rechtsbeugung, das Zurückhalten von Honoraren und durch Schikanen bei Genehmigungen.

Bereits ab dem Sommer 1933 wurden jüdische und politisch andersdenkende KV-Ärzte systematisch zur Ausreise getrieben. Das Deutsche Ärzteblatt veröffentlichte regelmäßig die Abgänge aus der kassenärztlichen Versorgung. Ab 1935 galt die erste Reichsärzteordnung. Sie beinhaltete die Selektion von Patienten nach rassistischen Kriterien und machte Ärzte zu „Dienern der Volksgesundheit“.

Schikaniert und enteignet.

Im selben Jahr traten die „Nürnberger Rassengesetze“ in Kraft. Im September 1938 wurde sämtlichen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen. Das bedeutete auch, dass ihnen ihre Praxisräume und die dazugehörenden Wohnungen gekündigt wurden. Krankenkassen, KVen und Kommunen beteiligten sich an dieser entwürdigenden Entrechtung. Und so mancher nicht-jüdische Kollege profitierte von den zu Spottpreisen veräußerten Praxis-Inventaren.

Gleichzeitig führten die Nazis den beschämenden Status des „Krankenbehandlers“ ein. Dieser galt für einige wenige jüdische Kollegen, die noch zur Behandlung jüdischer Patienten zugelassen waren. Bald folgten Kriegsbeginn und die Wannseekonferenz. Wer jetzt noch im Land als Jude lebte, war dem Untergang geweiht.

Vergangenheit als Schmach.

Das sind die nüchternen Fakten. Hinter ihnen verbirgt sich unendlich großes Leid. Selten zeigte sich der dünne Firnis der Zivilisation so deutlich wie in diesen dunkelsten Jahren deutscher Geschichte. Und an all dem waren auch ärztliche Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Aktiv. Wissentlich. Organisiert. Das ist die Schmach, welche die Ärzteschaft in Deutschland anerkennen muss. Ärztliches Handeln und ärztliches Ethos haben in diesen Jahren entsetzlich versagt.

Antisemitische Gewalttaten nehmen in Deutschland wieder zu.

Die Aufarbeitung dieses Unrechts ist auf regionaler Ebene vielfach geschehen. Die Vertreterversammlung der KBV hat 2017 beschlossen, Licht in die verbliebenen Archive zu bringen. Denn es lagern in Köln noch viele Meter Akten, die bislang nicht umfassend gesichtet sind.

Mit dem Projekt „KBV übernimmt Verantwortung“ stellt die KBV für zunächst zwei Jahre die Mittel bereit, um die KVD-Akten systematisch zu erfassen und in einem Findbuch zu katalogisieren. Anschließend werden sie der Forschung zugänglich gemacht, um die Verstrickung der KVD in die Verbrechen des Nationalsozialismus aufarbeiten zu können. Professorin Stefanie Schüler-Springorum und Professor Samuel Salzborn werden das Projekt am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin leiten.

Verantwortung als Ärzte und Bürger.

Heute kommen viele junge Israelis nach Berlin, um hier zu studieren und zu arbeiten. Der Ruf der deutschen Hauptstadt zieht sie an, die Weltoffenheit, das Ungezwungene, die lebendige Kulturszene der Stadt. Jüdische Künstler, Musiker, Schriftsteller suchen in Berlin Inspiration und prägen das Kulturleben mit.

Doch gleichzeitig nehmen antisemitische Gewalttaten in unserer Mitte zu. Rechtspopulismus und Rechtsextremismus drängen in den öffentlichen Diskurs. Im Internet werden Hassreden salonfähig. Die deutsche Ärzteschaft antwortet darauf klar und deutlich: Was vor 80 Jahren in Deutschland geschah, ist Mahnung und Auftrag zugleich. Wir werden Intoleranz und Ausgrenzung nicht dulden und Hass und Gewalt entschieden entgegentreten. Das ist unsere Verantwortung als Ärzte und als Bürger dieses Landes.

Der Beitrag beruht auf einer Rede des Autors anlässlich des 80. Jahrestages des Entzugs der Approbation jüdischer Ärztinnen und Ärzte am 30. September 1938.

Andreas Gassen ist Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
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