Prävention

Motivationsspritzen fürs gesunde Leben

Essen Sie genug Obst und Gemüse? Treiben Sie auch ausreichend Sport? Viele Menschen tun das nicht und gefährden ihre Gesundheit. Wie sich deren Verhalten verändern lässt, beleuchten Prof. Dr. Ralph Hertwig und Dr. Mattea Dallacker.

Ein Blick auf Schlagzeilen wie „Rauchen tötet – vor allem einen Teil unserer Gesellschaft“ (Spiegel Online), „So dick war Deutschland noch nie“ (Merkur), „Fast 300.000 Jugendliche sind internetsüchtig“ (Deutschlandfunk) genügt, um zu dem Schluss zu gelangen, dass viele menschliche Verhaltensweisen mittel- und langfristig negative Konsequenzen für die Betroffenen selbst (zum Beispiel Diabetes, eingeschränkte Lebensqualität und niedrigere Lebenserwartung) und für andere (zum Beispiel Kosten des Gesundheitssystems und des Sozialstaates) haben. Glücklicherweise sind diese Verhaltensweisen form- und wandelbar.

Seit Jahren beschäftigt sich die Verhaltenswissenschaft, insbesondere die Psychologie und die Verhaltensökonomie, mit der Frage, wie sich effektiv und kosteneffizient menschliches Verhalten in eine vernünftigere Richtung lenken lässt. Geht das ohne die traditionellen „Big guns“ des Staates: Vorschriften, Verbote und Steuern?

In den letzten Jahren hat die Diskussion um neue Möglichkeiten der Verhaltensänderung große Dynamik aufgenommen. Das Zauberwort lautet „Nudging“, übersetzt in etwa „Stupsen“ oder „Anstoßen.“ Diese Methode hat nicht nur in den USA oder in Großbritannien das Interesse der Regierenden geweckt, sondern auch in vielen anderen Ländern rund um den Globus, inklusive Deutschland. Wie kann die Verhaltenswissenschaft helfen, den unvollkommenen Menschen, der genussorientiert statt gesundheitsbewusst und träge statt aktiv handelt, zu klügerem und gesünderem Verhalten zu bewegen?

Nudging kommt ursprünglich aus den USA und wurde dort von dem Ökonomen Richard Thaler und dem Rechtswissenschaftler Cass Sunstein entwickelt, basierend auf jahrzehntelanger psychologischer und verhaltensökonomischer Forschung.

Laut einer einflussreichen Schule innerhalb dieser Forschung sind viele unserer Entscheidungen und Verhaltensweisen durch menschliche Schwächen – genauer kognitive Fehler und motivationale Defizite – charakterisiert. Diese Schwächen seien, so die vorherrschende Sichtweise, schwer zu korrigieren. Wir seien sozusagen „unverbesserlich“.

Warum also den Versuch unternehmen, Menschen aufzuklären und sie so von ihren Schwächen zu befreien? Wäre es nicht viel besser, die menschlichen Schwächen zu nutzen und eine „Entscheidungsarchitektur“ zu schaffen, die vorteilhaftes Verhalten wahrscheinlicher macht?

Entscheidungsarchitektur beschreibt den gesetzlichen oder physikalischen Kontext, in dem Menschen sich verhalten und entscheiden. Gestaltet wird die Entscheidungsarchitektur von einem Entscheidungsarchitekten, zum Beispiel einer Behörde, einer öffentlichen Einrichtung oder dem Gesetzgeber. Durch die Umgebung (Entscheidungsarchitektur), die mit einer der menschlichen Schwächen sozusagen ein Team bildet, soll dann das Verhalten in die gewünschte Richtung gelenkt werden.

• Dallacker, M., Hertwig, R., Mata, J. (2018). The frequency of family meals and nutritional health in children. A meta-analysis. Obesity Reviews, 19, 638–653.
• Dallacker, M., Hertwig, R., Mata, J. (2018). Parents‘ considerable underestimation of sugar and their child‘s risk of overweight.  International Journal of Obesity, 42, 1097–1100.
• Hertwig, R. (2017). When to consider boosting. Some rules for policy-makers. Behavioural Public Policy, 1, 143–161.
• Hertwig, R., Grüne-Yanoff, T. (2017). Nudging and boosting. Steering or empowering good decisions. Perspectives on Psychological Science, 12, 973–986.
• Thaler, R. H., Sunstein, C. R. (2011). Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Ullstein.

Ein konkretes Anwendungsbeispiel ist die staatliche Organisation der Organspende, die auch in Deutschland gegenwärtig diskutiert wird. Das Problem ist bekannt und dringend: In vielen Ländern – auch in Deutschland – gibt es zu wenige gespendete Organe. Viele Menschen sterben, weil sie nicht rechtzeitig ein rettendes Organ erhalten. Wie lässt sich das Problem lösen?

In den europäischen Ländern gibt es zwei Entscheidungsarchitekturen, die sich in einem zentralen Punkt unterscheiden. In einigen Ländern wird der Staatsbürger per Gesetz zum potenziellen Organspender erklärt. Wenn eine Person diesen Status ablehnt, muss sie ausdrücklich widersprechen (Widerspruchslösung). In anderen Ländern ist es genau umgekehrt. Kein Staatsbürger ist potenzieller Organspender, es sei denn, er erklärt sich ausdrücklich dazu bereit, seine Organe spenden zu wollen (Zustimmungslösung).

Widerspruchslösung und Zustimmungslösung sind zwei unterschiedliche Entscheidungsarchitekturen, in der die jeweilige „Standardeinstellung“ (sie regelt, was passiert, wenn eine Person keine Entscheidung trifft) unterschiedliche Konsequenzen hat: Bei der Widerspruchslösung führt Nichtstun zur potenziellen Organspende. Bei der Zustimmungslösung dagegen wird der Staatsbürger durch Nichtstun aus der potenziellen Organspende entlassen.

Menschliche Trägheit zunutze gemacht.

Nudging-Programme unterstellen häufig, dass Menschen träge sind. Trägheit ist hier ein zentrales motivationales Handicap. Dementsprechend würde die Widerspruchslösung dazu führen, dass die überwältigende Anzahl der Bürger ihre per Gesetz unterstellte Zustimmung zur Organspende aus Trägheit unwidersprochen lässt.

Tatsächlich bestätigen das die vorhandenen Daten. Die Widerspruchslösung stellt also die gewünschte erhöhte Organspendebereitschaft dadurch her, dass die Entscheidungsarchitektur (Standardeinstellung) sich die (angenommene) Trägheit des Bürgers zunutze macht.

Niemand wird gezwungen potenzieller Organspender zu sein – man ist es allerdings, so lange man nicht aktiv wird und schriftlich Widerspruch einlegt. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat diese Regelung angeregt.

Ein weiteres Anwendungsbeispiel für Nudging ist der aktuelle Kampf gegen Übergewicht und Adipositas. Übergewicht und Adipositas erhöhen das Risiko von chronischen und oft lebensgefährlichen Erkrankungen wie Diabetes Mellitus, Herz- Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkerkrankungen und Krebs und können psychische Probleme, Stigmatisierung und eine verminderte Lebensqualität und -erwartung zur Folge haben.

Übergewicht, Adipositas und ihre Folgen verursachen gesellschaftliche Kosten. Allein in Deutschland werden die jährlich anfallenden Kosten auf 29 Milliarden Euro geschätzt.

Besonders alarmierend ist die stark wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas: In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich deren Zahl weltweit verzehnfacht. Dieser Trend ist alarmierend, weil in der frühen Kindheit die Weichen für ein gesundes Essverhalten und damit gegen Übergewicht im gesamten Lebensverlauf gestellt werden.

Gesundes ins Blickfeld rücken.

Der Zugang der Nudger ist wiederum die Entscheidungsarchitektur, in diesem Fall die Architektur der Schulkantine. In Schulkantinen ist die Entscheidungsarchitektur oft so gestaltet, dass Desserts, Schokoriegel oder Muffins nahe der Kasse zu finden sind, Salate, Früchte und Gemüse dagegen weiter entfernt platziert sind. Unterstellt man wiederum Trägheit und geht von dem Grundsatz „aus den Augen, aus dem Sinn“ aus, werden auf diese Weise gesunde Lebensmittel weniger konsumiert als ungesunde. Süßigkeiten geraten unvermeidlich ins Sichtfeld des Konsumenten. Um zum Salat zu gelangen, müsste man sich aktiv in die „Gesundheitsecke“ bewegen.

Der „stupsende“ Entscheidungsarchitekt schlägt dagegen vor, gesunde Nahrungsmittel in unmittelbarer Nähe zur Kasse zu platzieren. Der träge Konsument würde sich dann, so die Hoffnung, gestupst fühlen, gesunde Lebensmittel zu wählen.

Beide Beispiele (Organspende und Lebensmittelwahl) folgen derselben Logik: Die Entscheidungsarchitektur nutzt die angenommenen kognitiven oder motivationalen Defizite, um das menschliche Verhalten mit der Entscheidungsarchitektur in die gewünschte Richtung zu lenken.

Nudging in der Kritik.

In der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion zum Thema Nudging gibt es eine ganze Reihe von Einwänden. Diese reichen von konzeptionellen (kennt der Staat die Präferenzen des Einzelnen gut genug?) bis zu ethischen Problemen.

Einer der wichtigsten Einwände ist die potenzielle Bevormundung. Kritiker warnen vor einem „Nanny-Staat“. Dieser meint genau zu wissen, was für den Staatsbürger das Beste ist und agiert und regiert entsprechend mithilfe von lenkenden Entscheidungsarchitekturen, ohne dass sich der gestupste Bürger zwangsläufig über den Stups bewusst ist. Der paternalistisch agierende Staat übt so die Deutungshoheit aus.

Ein Stups allein reicht nicht, um das Verhalten langfristig zu ändern.

Entkräftet wird dieser Einwand dadurch, dass eine wesentliche Eigenschaft des Nudge seine Umkehrbarkeit ist. Entscheidungen, die basierend auf bestimmten Voreinstellungen zustande kommen (zum Beispiel: jeder ist ein Organspender), lassen sich auch leicht wieder durch den Bürger rückgängig machen.

Dafür muss der Stups (und seine zugrundeliegenden psychologischen Mechanismen und Konsequenzen) für die Bürger allerdings so transparent sein, dass sie ihn erkennen und gegebenenfalls rückgängig machen können. Aber wenn der Stups und seine Wirkung vollständig transparent sind, wie gut funktioniert er dann noch?

Ein weiterer wichtiger Punkt: Bewirkt ein punktueller Stupser tatsächlich eine effektive Verhaltensänderung? Die Umgestaltung von Schul- und öffentlichen Kantinen weg von kommerziellen Erwägungen hin zu gesünderen Ernährungsentscheidungen erscheint absolut sinnvoll.

Aber es wäre naiv zu glauben, dass mit dieser Intervention Kinder oder Jugendliche in die Lage versetzt würden, sich den zahllosen Versuchungen der Konsumumwelt widersetzen zu können. Läuft man durch die Fußgängerzonen der Innenstädte, weiß man, mit welcher manipulativen Raffinesse unsere Aufmerksamkeit auf den Konsum von Nahrungsmitteln und Getränken gelenkt wird. Kinder, Jugendliche und Erwachsene müssen auch mit dieser Umgebung, die kommerzielle und keine öffentlichen Entscheidungsarchitekten ersonnen haben, zurechtkommen.

Kompetenzen gefragt.

Dazu benötigt man, so glauben wir, Kernkompetenzen, um gute Entscheidungen über verschiedene Kontexte zu treffen. Mithilfe von Risikokompetenz verstehen wir statistische Informationen zu unserer eigenen Gesundheit (Was bedeutet es, dass mein Mammografie-Befund positiv ist? Wie sicher ist es, dass ich Krebs habe?). Digitale Kompetenz gibt uns die Fähigkeit, vertrauenswürdige von gezielt irreführenden Webseiten zu unterscheiden und manipulierte Suchergebnisse zu erkennen. Mit finanzieller Kompetenz können wir die Wahrscheinlichkeit von Verlusten bei Investitionen in risikobehaftete Wertpapiere oder Fonds genauer einschätzen.

Diese und viele andere Kompetenzen können gezielt gefördert werden. Mit dem Begriff „Boosting“ bezeichnen wir die Vermittlung wichtiger Kernkompetenzen in unsicheren, komplexen und oftmals manipulativen Entscheidungsumgebungen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln.

Das Ziel von Boosting ist es, anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen Handlungs- und Entscheidungskompetenzen zu verbessern, statt wie beim Nudging menschliche Schwächen auszunutzen. Boosting soll Menschen in die Lage versetzen, gute Entscheidungen zu treffen. Diesem Ziel dienen beispielsweise die AOK-Faktenboxen, die die Gesundheitskasse gemeinsam mit dem Harding-Zentrum für Risikokompetenz des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung entwickelt hat (siehe Kasten: „Wissen verständlich aufbereitet“).

Die AOK-Faktenboxen
 

Um Entscheidungen für die eigene Gesundheit treffen zu können, sind verständliche und zuverlässige Informationen über den Stand der medizinischen Forschung erforderlich.

Diese bieten im Sinne des Boostings die AOK-Faktenboxen, die die Gesundheitskasse gemeinsam mit dem Harding-Zentrum für Risikokompetenz des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung entwickelt hat.

Mithilfe dieser Boxen können sich Ratsuchende schnell und effektiv über viele Themen rund um die medizinische Versorgung informieren. Die AOK-Faktenboxen stellen mit Grafiken und verständlichen Texten Nutzen und Risiken, Schaden und Nebenwirkungen übersichtlich gegenüber. Damit wird komplexe Wissenschaft so aufbereitet, dass auch Nichtfachleute die Informationen gut verstehen können.

Aktuell gibt es 20 AOK-Faktenboxen. Ihre Bandbreite reicht von Impfungen über Röntgen bei Rückenbeschwerden, Stoßwellentherapie, Ultraschall-Früherkennung von Eierstockkrebs, Organspendeausweis und kieferorthopädische Behandlung bis hin zu Nahrungsergänzungsmitteln.


 Zu den Faktenboxen

Boosting fühlt sich der Autonomie des Entscheiders verpflichtet, anstatt zur Passivität zu erziehen, wie es mit einer stupsenden Entscheidungsarchitektur passieren kann. Natürlich machen Menschen Fehler beim Entscheiden, und wir alle kennen Situationen, in denen wir uns bessere Selbstkontrolle wünschen.

Trotzdem kann man Menschen und ihre mentale und motivationale Grundverfassung nicht auf eine systematisch fehlerhafte „Software“ und einen trägen Charakter reduzieren, wie es nicht selten beim Nudging passiert. Das wird weder den erstaunlichen Leistungen und dem Potenzial des menschlichen Gehirns gerecht noch unserer Fähigkeit, Selbstkontrolle zu praktizieren.

Risiken einschätzen können.

Wie sehen konkrete Beispiele für Boosting aus? Ein sehr schnell umsetzbarer Boost steigert unsere Risikokompetenz. Diese hilft bei allen Entscheidungen, für die wir in irgendeiner Form Wahrscheinlichkeitsinformationen nutzen oder nutzen sollten.

Bei medizinischen Entscheidungen werden wir beispielweise oft mit Aussagen konfrontiert, die Statistiken beinhalten: Wenn Sie dieses Medikament nehmen, reduziert sich ihr Mortalitätsrisiko um 20 Prozent. Im ersten Moment hört sich das überzeugend an. Aber sollte diese Information genügen, um sich für oder gegen ein Medikament zu entscheiden? Risikokompetenz würde hier bedeuten, diese Frage zu stellen: Was genau versteckt sich hinter den 20 Prozent? Geht man von 1.000 Patienten aus, kann sich die Sterberate beispielsweise von fünf auf vier, von 50 auf 40 oder von 500 auf 400 Patienten reduziert haben. Erst wenn man nach absoluten Häufigkeiten fragt, erfährt man, wie groß die Mortalitätsreduktion tatsächlich ist. Im ersten Fall wäre es eins unter 1.000, im zweiten zehn von 1.000 und im dritten 100 von 1.000.

Im medizinischen Kontext wird häufig nur über relative Risikoreduktion gesprochen, weil damit der Behandlungserfolg eines Medikaments besonders groß erscheint. So werden aus einer Person (Reduktion von fünf auf vier) 20 Prozent Risikoreduktion – ein kommerzieller Nudge sozusagen.

Boosting besteht unter anderem darin, Menschen diesen Unterschied zwischen relativen und absoluten Kennzahlen der Risikoreduktion zu erklären und damit folgende Kompetenz zu vermitteln: Wann immer ein Experte – egal ob Arzt oder Finanzberater – versucht, mit relativen Zahlen zu überzeugen, muss die Frage lauten: Was meinen Sie mit 20 Prozent? Übersetzen Sie diese Angabe bitte in absolute Häufigkeiten.

Dieser „Übersetzungs“-Boost trifft keine Entscheidung wie es ein Nudge täte, aber er befähigt dazu, die relevanten Fakten so transparent und verständlich zu erfragen, so dass gute und mündige Entscheidungen getroffen werden können.

Wie bereits beschrieben sind Übergewicht und seine Folgen ein dringendes gesellschaftliches Problem. Boosting kann auch eine Rolle spielen, um Menschen zu befähigen, gesunde Essensentscheidungen für sich oder andere zu treffen.

In Deutschland isst nur jedes fünfte Mädchen und jeder sechste Junge die täglich empfohlene Menge an Obst und Gemüse, und 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig. Wie kann Boosting diesem Trend entgegenwirken?

Bausteine für gesundes Familienessen.

In den ersten Lebensjahren haben Eltern einen maßgeblichen Einfluss auf die sich formenden Ernährungsgewohnheiten. Das verdeutlicht auch die Grenzen von Nudging. Denn die so einflussreiche häuslich-private Umgebung kann nur schwer von außen durch Nudging verändert werden. Der Staat kann nicht entscheiden, ob im Kühlschrank das Gemüse auf Sichthöhe liegt oder der Schokopudding.

Um Übergewicht effektiv vorzubeugen, müssen Eltern zu kompetenten Entscheidern werden. Frühstück, Mittag- und Abendessen finden gerade bei kleinen Kindern häufig zu Hause mit der Familie statt. Umfragen bestätigen, dass Familien nach wie vor großen Wert auf gemeinsame Mahlzeiten legen.

Intuitiv scheint vielen Eltern bereits bewusst zu sein, wie wichtig gemeinsame Mahlzeiten sein können. Denn sie bieten eine hervorragende Lernumgebung für Kinder: Durch Tischgespräche und die aktive Einbindung in die Essenszubereitung können Kinder wichtiges Wissen und Kompetenzen für eine gesunde Ernährung erlangen. Zudem können Eltern als gutes Vorbild eine gesunde Ernährungsweise vorleben.

Studien bestätigen, dass sich Kinder, die häufig mit der Familie essen, im Schnitt gesünder ernähren und mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit übergewichtig sind, als Kinder, die selten mit der Familie essen. Allerdings sind die Effekte eher klein. Das ist bei genauerer Betrachtung nicht überraschend. Denn Familienmahlzeiten müssen nicht zwangsläufig gesund sein. Wie gesundheitsförderlich können beispielsweise Familienmahlzeiten noch sein, wenn die Familie Fast Food vor dem Fernseher isst? Entscheidend ist also nicht nur, dass Familien gemeinsam essen, sondern auch wie sie essen.

Der stupsende Entscheidungsarchitekt platziert gesunde Nahrungsmittel in unmittelbarer Nähe zur Kasse.

Doch wie genau sollten Familienmahlzeiten gestaltet werden, damit sie eine gesunde Ernährungsweise von Kinder begünstigen? In einer Metaanalyse haben wir sechs evidenzbasierte Bausteine für ein gesundes Familienessen identifiziert. Ein Baustein ist zum Beispiel, den Fernseher während der Mahlzeit auszuschalten. Ein anderer, dass Eltern eine Vorbildrolle während der Mahlzeit einnehmen. Boosting besteht in diesem Zusammenhang darin, den Eltern diese Bausteine in Gestalt einfacher Regeln an die Hand zu geben.

Eltern können so zu kompetenten Gestaltern werden und die Architektur des Familienessens derart verbessern, dass sie eine gesunde Ernährungsweise ihrer Kinder fördern und Übergewicht vorbeugen. Ein Boost in Form von sechs einfachen Essensregeln kann also die Entscheidungskompetenzen von Eltern am Familientisch stärken.

Entscheidungshilfen für den Einkauf.

Boosting kann aber auch schon früher beim Einkaufen im Supermarkt eingesetzt werden. Denn hier müssen Eltern entscheiden, welche Lebensmittel im Einkaufswagen und später auf dem Familientisch landen. Welche Kompetenzen sind hier wichtig?

Um gesunde Essensentscheidungen für sich und die Familie zu treffen, müssen Eltern zum Beispiel ein intuitives Wissen über den Zuckergehalt verschiedener Lebensmittel haben. Denn hoher Zuckerkonsum gilt als ein Mitverursacher der aktuellen Übergewichtskrise.

Zucker war einmal ein seltenes und kostbares Genussmittel. Im Jahr 1822 betrug der jährliche Pro-Kopf-Konsum von Zucker in Amerika rund drei Kilo. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts lag er bei rund 50 Kilo. Das Problem: Industriell hergestellte Nahrungsmittel enthalten häufig überraschend große Mengen an verstecktem Zucker. Da fällt es selbst Menschen mit guter Bildung schwer, im Supermarkt noch den Überblick zu behalten.

Zuckergehalt unterschätzt.

In einer Studie konnten wir zeigen, wie gravierend das Problem ist. In einer deutschlandweiten Umfrage haben wir Eltern den Zuckergehalt bekannter Lebensmittel schätzen lassen. Heraus kam, dass die meisten Eltern den Zuckeranteil vieler Lebensmittel teilweise massiv unterschätzen.

Problematisch waren vor allem Lebensmittel, die häufig als gesund gelten. Zum Beispiel haben über 90 Prozent der befragten Eltern den Zuckeranteil eines handelsüblichen Fruchtjoghurts falsch eingeschätzt. Statt der enthaltenen elf Zuckerwürfel schätzten sie die Menge im Durchschnitt auf nur vier Zuckerwürfel.

In vielen Ländern gibt es daher vermehrt Initiativen und politische Strategien, die das Ziel verfolgen, den Zuckerkonsum in der Bevölkerung zu reduzieren. Diese Strategien reichen von einem Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für zuckerreiche Lebensmittel über Zuckersteuern bis hin zu Verkaufsverboten von Softdrinks in Schulen.

Um den Zuckerkonsum effektiv zu reduzieren, ist daneben aber auch die Stärkung von Entscheidungskompetenzen wichtig. Ein effektiver Boost, der Eltern befähigen kann, schnell einzuschätzen, ob viel oder wenig Zucker in einem Lebensmittel steckt, wäre eine transparentere und auf den ersten Blick erkennbare Kennzeichnung des Zuckergehalts. Dies kann zum Beispiel in Form einer Ampelkennzeichnung (grün: wenig Zucker, rot: viel Zucker) geschehen.

Strategien für die Zukunft.

Insgesamt werden dank Nudging Forschungsergebnisse der Verhaltenswissenschaften weit über die Psychologie und Verhaltensökonomie hinaus zur Kenntnis genommen. Auch öffentliche Verwaltungen und Entscheidungsträger erkennen deren Nutzen an. Im nächsten Schritt sollten diese Erkenntnisse für unterschiedliche Interventionen zur Verhaltensänderung genutzt werden, sei es per Nudging oder per Boosting. Mit Boosting kann die Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Selbstkontrolle nachhaltig gestärkt werden.

Neben der weiteren Entwicklung von Boosts und Nudges geht es auch darum, besser zu verstehen, unter welchen Umständen ein Boost oder ein Nudge besser geeignet ist, das erklärte Ziel zu erreichen. Zu den Kriterien, die bei dieser Auswahl eine Rolle spielen, gehören vorrangig verschiedene Aspekte wie die Effektivität der Methode, die Kosteneffizienz und die Präferenzen, vor allem aber auch die Autonomie des Bürgers.

Ralph Hertwig ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Mattea Dallacker ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.
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