Interview

„Netzwerke helfen im Alter“

Allein mit professionellen Angeboten wird sich Pflegebedürftigkeit künftig nicht bewältigen lassen, meint Tanja Segmüller. Die Pflegewissenschaftlerin empfiehlt mehr ehrenamtliches und kommunales Engagement.

Frau Professorin Segmüller, wer wird sich um die Menschen der geburtenstarken Jahrgänge kümmern, wenn sie pflegebedürftig werden?

Tanja Segmüller: Heute hat jede dritte Frau über 60 keine eigenen Kinder. Außerdem leben erwachsene Kinder meist weit weg oder sind stark in Arbeit und Familie eingebunden. Deshalb brauchen wir künftig zusätzlich zur professionellen Pflege – von der wir sowieso zu wenig haben – Netzwerke von Menschen, die sich umeinander kümmern. Die sollte man schon in der Lebensmitte knüpfen, denn solche Netzwerke helfen im Alter.

Nach dem Motto: Ich schließe mich mit Euch zusammen, damit Ihr mir helft, wenn ich nicht mehr kann?

Segmüller: Ja, damit sich Menschen gegenseitig helfen. Jeder hat unterschiedliche Kompetenzen: Der eine kann besser Papierkram erledigen, der andere Rasen mähen. Dazu muss man sich frühzeitig, auch in der eigenen Familie, mit dem Altwerden und der Pflege beschäftigen. Für jeden zweiten ab 90 und für jeden dritten ab 80 ist die Pflegebedürftigkeit eine Phase, die zum Leben dazugehört.

Portrait Prof. Dr. Tanja Segmüller, Professorin für Alterswissenschaft an der Hochschule für Gesundheit in Bochum.

Zur Person

Prof. Dr. Tanja Segmüller ist Professorin für Alterswissenschaft an der Hochschule für Gesundheit in Bochum.

Sie plädieren auch für mehr Angehörigenpflege. Wo sehen Sie da Reserven?

Segmüller: Die Angehörigen sind nach wie vor die stärkste Säule in der Pflege. Aber veränderte Familienstrukturen und eine stärkere Berufstätigkeit, vor allem auch der Frauen, lassen das familiäre Pflegepotenzial schwinden. Deshalb muss es ähnlich wie bei der Kinderbetreuung eine Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige geben – damit Angehörigenpflege nicht zum Armutsrisiko wird.

Unter welchen Voraussetzungen halten die von Ihnen erwähnten Netzwerke auch im Falle einer Pflegebedürftigkeit?

Segmüller: Eine gute Basis bildet das Wohnviertel. In Neuss beispielsweise hat sich eine Altentagesstätte ins Quartier geöffnet. Dort gehen Mitglieder des Karnevalsvereins und Ehrenamtliche verschiedener Initiativen ein und aus. Wenn jemand pflegebedürftig wird, hat er in diesem Quartiershaus Kontakt zu Netzwerken. Das muss wachsen und kann nur über eine neutrale, hauptamtliche Steuerung bei der Kommune gelingen.

Menschen, die sich selber einbringen, bekommen auch etwas zurück.

Also ist doch nicht jeder Einzelne gefragt, für Pflegebedürftigkeit vorzusorgen, sondern die Kommune?

Segmüller: Die Kommune sollte Strukturen schaffen, die es dem Einzelnen ermöglichen, an Helfer zu kommen und eigene Hilfe anzubieten. In einer Kommune in Baden-Württemberg hat sich ein hohes bürgerschaftliches Engagement entwickelt, weil es dort selbstverständlich ist, sich in der Jugend- oder Altenarbeit, der Kultur oder anderen Bereichen einzubringen. Die Heidelberger Hundertjährigen-Studie zeigt, dass diejenigen, die sich selber einbringen, auch etwas zurückbekommen. Das ist kein Tauschhandel, sondern eher so, dass aus der Hilfe heraus tragfähige Beziehungen entstehen. Aber das kann auch abbrechen, wenn jemand hilfe- oder pflegebedürftig wird. Da muss ein Bewusstsein entstehen, dass Pflegebedürftigkeit zum Leben dazugehört. Das hat viel mit Erziehung, Bildung und Haltung zu tun.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich dieses Bewusstsein entwickelt?

Segmüller: Das ist noch ein langer Weg. Es müsste, ähnlich wie bei Fridays for Future, wo es ums Klima geht, eine Welle geben, die Pflegebedürftigkeit als wichtigste soziale Frage unseres Landes auf die Agenda bringt.


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Änne Töpfer stellte die Fragen. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
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