Arzthaftungsprozess

Sachverständiger unverzichtbar

Kommt es bei einem vermeintlichen Behandlungsfehler zum Prozess, kann das Gutachten einer medizinischen Schlichtungsstelle ein gerichtliches nicht ersetzen. Auch erhöht es nicht die Darlegungslast von Patientinnen und Patienten. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens

Beschluss vom 12. März 2019
– VI ZR 278/18 –

Bundesgerichtshof

Nach einer ärztlichen Behandlung

sollten sich Patientinnen und Patienten eigentlich besser fühlen. Tritt aber das Gegenteil ein, drängt sich mitunter der Verdacht eines Behandlungsfehlers auf. Dann ist ein wichtiger Ansprechpartner die gesetzliche Krankenkasse. Sie kann beim Medizinischen Dienst ein Sachverständigengutachten einholen, um zu klären, ob ein Behandlungsfehler vorliegt. Aber auch die Ärzteschaft hat Einrichtungen gegründet, die Patientinnen und Patienten bei der Klärung des Verdachts unterstützen. Diese Gutachterkommissionen oder Schlichtungsstellen sind meistens bei der jeweils zuständigen Landes(zahn)ärztekammer angesiedelt. Zumeist sind die Gremien mit Ärzten und Juristen besetzt, teilweise auch mit Patientenvertretern. Die Verfahren erfolgen schriftlich und ohne mündliche Erörterung. Die Ärztekammern sowie die meisten Zahnärztekammern bieten diese Verfahren für den Patienten kostenlos an. Das Ergebnis ist aber nicht bindend. Kommt es zu einem Arzthaftungsprozess, stellt sich die Frage, wie relevant das Gutachten einer ärztlichen Schlichtungsstelle ist. Der Bundesgerichtshof hat nun diese Frage beantwortet.

Darmverschluss führte zum Tod.

Geklagt hatte die Tochter einer 1938 geborenen Patientin. Ihre Mutter war am 27. Januar 2012 an der Lendenwirbelsäule operiert worden. Nach dem Eingriff klagte sie über Übelkeit und Bauchschmerzen. Am 2. Februar 2012 starb die Patientin. Der Autopsiebericht gab als Todesursache eine akute Herzinsuffizienz an, der eine Koronararteriensklerose und ein Darmverschluss vorausgegangen seien. Die Tochter führte den Tod ihrer Mutter auf den nach ihrer Auffassung fehlerhaft unerkannt und unbehandelt gebliebenen Darmverschluss zurück. Im Vorfeld des Prozesses hatte das neurochirurgische Gutachten der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der zuständigen Ärztekammer ergeben, dass ein Behandlungsfehler nicht festzustellen sei. Die Tochter der Verstorbenen klagte und verlangte Schadensersatz.

Patienten sind nicht dazu verpflichtet, sich medizinisches Fachwissen anzueignen, so die obersten Zivilrichter.

Das Landgericht wies die Klage ab und das Oberlandesgericht (OLG) die Berufung zurück. Die Klägerin habe nicht ausreichend genug dargelegt, dass ihre Mutter fehlerhaft behandelt worden sei. Der Sachverständige des Schlichtungsverfahrens sei unter Berücksichtigung der Frequenz des Stuhlgangs der Patientin sowie der Darmlähmung zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Behandlungsfehler nicht vorliege. Der Autopsiebericht habe ihm dabei vorgelegen. Da die Klägerin gegen das Schlichtungsgutachten keine beachtenswerten Einwände erhoben habe, sei ein weiteres Sachverständigengutachten nicht erforderlich.

Daraufhin reichte die Tochter Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH ein. Das oberste Zivilgericht hob das Urteil auf und wies den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Darlegungslast begrenzt.

In ihrer Begründung stellten die obersten Zivilrichter zunächst klar, dass an die Darlegungspflichten eines Patienten nur maßvolle Anforderungen zu stellen sind. Von ihm könne keine Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. Ihm fehle die genaue Einsicht in das Behandlungsgeschehen und das nötige Fachwissen. Er sei nicht verpflichtet, sich dieses Wissen anzueignen. Es genüge, wenn sich aus dem Vortrag des Patienten die Vermutung einer fehlerhaften Behandlung aufgrund der eingetretenen Schäden entnehmen lasse. Sei zur Klärung des Sachverhalts das Gutachten eines Sachverständigen erforderlich, müsse es das Gericht von Amts wegen einholen.

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Das gebiete die Gewährleistung der Waffengleichheit zwischen den Parteien. Gutachten aus vorangegangenen Verfahren ärztlicher Schlichtungsstellen, so der BGH weiter, könnten zwar im Wege des Urkundenbeweises gewürdigt werden. Dadurch erhöhe sich aber nicht die Darlegungslast des Patienten. Auch könne das Schlichtungsgutachten nicht den Sachverständigenbeweis ersetzen. Ob ein solches Gutachten inhaltlich richtig sei oder nicht, unterliege der richterlichen Beweiswürdigung. In einem solchen Fall müsse das Gericht einen Sachverständigen hinzuziehen und eine schriftliche oder mündliche Begutachtung anordnen. Dabei komme es nicht darauf an, ob das Schlichtungsgutachten die Behauptung einer Partei stütze oder nicht. Denn unabhängig vom Urkundenbeweis stehe den Prozessbeteiligten stets das Recht zu, den Sachverständigenbeweis anzutreten.

Rechtliches Gehör verletzt.

Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe den mutmaßlichen Behandlungsfehler nicht ausreichend genug dargelegt, teilten die obersten Zivilrichter nicht. Die Vorinstanz habe ein gerichtliches Sachverständigengutachten für unnötig gehalten und damit den verfassungsmäßigen Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt (Artikel 103 Absatz 1 Grundgesetz). Indem die Tochter mit Hinweis auf den Autopsiebericht behauptete, ihre Mutter habe an einem schuldhaft verkannten postoperativen Darmverschluss gelitten und sei deshalb gestorben, habe sie die Anforderungen an ihre Darlegungspflicht erfüllt. Mehr hätte die Tochter nicht vortragen müssen. Den Verstoß gegen das rechtliche Gehör stufte der BGH als erheblich für die Entscheidung ein. Denn es sei nicht auszuschließen, dass das OLG nach dem Einholen eines Sachverständigengutachtens überzeugt davon gewesen wäre, dass der im Autopsiebericht als Mitursache für den Tod bestätigte Darmverschluss behandlungsfehlerhaft nicht erkannt und behandelt worden sei, und den Anspruch der Tochter bejaht hätte.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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