Verteilung

Gerechtigkeit neu denken

Was Menschen als gerecht empfinden, lässt sich mithilfe neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ziemlich genau angeben, so Prof. Dr. Dr. Christian Thielscher in seinem neuen Buch. Darin hat er ein Verständnis von Gerechtigkeit entwickelt, das auch in der Gesundheitsversorgung eine Rolle spielen kann.

Ist es gerecht,

alle gleich zu behandeln? Existiert Gerechtigkeit überhaupt, oder ist sie, wie zum Beispiel Nobelpreisträger Friedrich von Hayek meinte, ein Irrglaube? Und, falls sie doch existiert, was ist ihr Inhalt, und wo ist ihr Sitz im Leben? Gerechtigkeit gehört zu den zentralen Konzepten, die Zusammenleben überhaupt erst ermöglichen. Für die Medizin ist Gerechtigkeit besonders wichtig, denn im Gesundheitswesen ist der Preis als Rationierungsinstrument außer Kraft gesetzt. Niemand soll sterben, nur weil er sich eine teure Behandlung nicht leisten kann. Daher steuern politische Institutionen die Güterverteilung – im Kern nach Gerechtigkeitsüberlegungen.

Inzwischen lässt sich mit bildgebenden Verfahren zeigen, welche Gehirnteile mit Fragen der Gerechtigkeit umgehen. Dazu wird bei Probanden mit funktioneller Kernspintomografie die Durchblutung des Gehirns gemessen. Aktive Hirnzentren, die mehr Sauerstoff verbrauchen als andere, geben sich durch vermehrte Durchblutung zu erkennen. Dadurch lässt sich beweisen, dass das Gerechtigkeitsempfinden ein stabiles anatomisches Substrat in unserem Gehirn aufweist. Es ist keineswegs nur eine Illusion, sondern biologisches Faktum.

Auch Tiere empfinden Gerechtigkeit.

Die Gehirnteile, die Gerechtigkeit verarbeiten, sind nicht nur für kognitive Fähigkeiten, sondern auch für Gefühle zuständig. Dieses Gerechtigkeitsempfinden ist evolutionär betrachtet sehr alt und nicht nur bei Primaten, sondern auch bei anderen sozial lebenden Tieren nachweisbar. Bereits Raben merken sich darüber hinaus auch, wer aus ihrer Gruppe zuverlässig kooperiert und wer betrügt, und passen ihr Verhalten entsprechend an. Kinder beginnen etwa ab dem dritten Lebensjahr, Ungerechtigkeit zu verhindern; ab dem fünften Jahr bestrafen sie – wenn sie können – zuverlässig ungerechtes Handeln und entschädigen Opfer.

Cover des Buches

Christian Thielscher: Wirtschaft und Gerechtigkeit: Was ist gerecht und wie beeinflussen Wirtschaftstheorien die Verteilung von Gütern? ISBN: 978-3-658-36222-5.

Als E-Book und Softcover Book erhältlich.


 Zum Buch

Auf dieser Grundlage lässt sich ein Modell der Gerechtigkeit entwickeln, das aus vier Elementen besteht: aus jemandem, der etwas zu verteilen hat; aus etwas, das verteilt wird; aus Empfängern sowie aus der Umwelt. Auf folgende Prinzipien gründen die Empfänger ihre Ansprüche auf gerechte Behandlung: Bedarf, Leistung und Vertrag. Das Bedarfsprinzip reguliert zum Beispiel die Gesundheitsversorgung, in der jeder bekommt, was er braucht. Leistung steuert Sport und Bildung. Hier erhält jeder, was er verdient hat. Gleichzeitig regelt der Vertrag den Bereich des Tausches, wobei jeder das bekommt, was er tauschen kann und möchte. Das Modell kann einige typische Gerechtigkeitsfragen klären, beispielsweise ob es gerecht ist, alle gleich zu behandeln.

Gerechtigkeitsempfinden ist keineswegs nur eine Illusion, sondern biologisches Faktum.

Das ist je nach Anspruchsgrundlage ganz unterschiedlich. Im Sport bekommt nur einer die Goldmedaille, im Krankenhaus werden alle gesetzlich versicherten Patienten gleich behandelt. Die Grundprinzipien der Gerechtigkeit sind überall gleich, nur werden die Grenzen der dadurch geregelten Lebensbereiche unterschiedlich gezogen. Gerechtigkeit ist biologisch bedingt und geht dem gesetzten Recht vor.

Märkte funktionieren nicht immer ideal.

Wieso behaupten einige Ökonomen hartnäckig, juristisches oder politisches Eingreifen zur Herstellung von mehr Gerechtigkeit sei schädlich? Um auch diese Frage zu klären, muss man den Hintergrund der aktuell herrschenden Volkswirtschaftslehre erhellen. Im Grundmodell des vollkommenen Marktes der Volkswirtschaftslehre handeln alle Beteiligten freiwillig. Sie verfügen über alle nötigen Informationen, die Märkte arbeiten kostenlos und unendlich schnell. Es existieren weder Markteintritts- noch -austrittsbarrieren. In dieser Welt kann jeder mit jedem auf Augenhöhe konkurrieren. Es gibt daher keinen Machthaber, der etwas ohne die Zustimmung der anderen verteilt. Es besteht aber auch kein Bedarf danach. Denn jeder bekommt automatisch das, was ihm zusteht. Unter diesen Voraussetzungen haben Anarchokapitalisten, die sich für einen völlig freien Markt einsetzen, recht, wenn sie fordern, staatliche Strukturen abzuschaffen. Doch in der Realität funktionieren Märkte nicht immer ideal. Eine ungeprüfte Vernichtung sozialer Einrichtungen (wie im Gesundheitswesen) zugunsten von Märkten, ist in der Regel nicht wohlfahrtsfördernd.

Die naturwissenschaftliche Basierung von Gerechtigkeitsfragen erlaubt, bloße Meinungen zu überwinden. Für emanzipatorische Bewegungen ist es hilfreich, auf einem stabilen, kaum zu bezweifelnden Gerechtigkeitsbegriff aufzusetzen. Dadurch wird es leichter, tatsächliche Ungerechtigkeit als solche zu beweisen.

Christian Thielscher ist Arzt, Ökonom und Wirtschaftsinformatiker und lehrt an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management.
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