Flucht ohne Ende
Manchmal reichen Geräusche, Gerüche, Stimmen oder Bilder: Geflüchtete Menschen werden in alltäglichen Situationen immer wieder an ihre traumatischen Erlebnisse erinnert. Psychotherapeuten versuchen zu helfen, doch der Andrang auf die zu wenigen Therapieplätze ist nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine groß. Von Thorsten Severin
Hals über Kopf musste Kateryna (Name geändert) ihre ukrainische Heimat verlassen. Die russischen Truppen waren bereits bis in ihren Wohnort vorgedrungen. Die junge Frau hatte bis dahin ein normales Leben geführt, arbeitete als Verwaltungsmitarbeiterin für eine kritische Infrastruktur – mehr darf ihre deutsche Therapeutin aus Datenschutzgründen nicht sagen. Plötzlich wurden mehrere ihrer Kolleginnen von russischen Soldaten gekidnappt, gefoltert, manche verschwanden spurlos. Kateryna floh gemeinsam mit ihrer Mutter im eigenen Auto aus dem umkämpften Gebiet, nur wenig konnten sie mitnehmen. Unterwegs wurde das Fahrzeug der beiden Frauen immer wieder beschossen und sie mussten sich verstecken. Nach einer langen Odyssee kamen Kateryna und ihre Mutter über Polen in Deutschland an. Hier haben sie bei privaten Helfern eine Bleibe gefunden.
Das Leben am seidenen Faden.
Doch das Gefühl der Bedrohung ist damit mitnichten vorbei. Denn die Geschehnisse, bei denen das Leben am seidenen Faden hing, lassen der Ukrainerin keine Ruhe. Der Beschuss auf der Flucht, die gekidnappten Kolleginnen – das alles hat sich im Gedächtnis festgebrannt und erscheint immer wieder vor ihrem inneren Auge. Die Frau ist schreckhaft, leidet unter Flashbacks. Die Akademikerin, die einst mit beiden Beinen im Leben stand, ist zu einem nervlichen Wrack geworden. Sie zieht sich von anderen Menschen zurück und bekommt zeitweise Angst, verrückt zu werden.
Es sind schließlich die deutschen Gastgeber, die medizinischen Rat einholen und die junge Frau dazu überreden, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zum Glück findet sich eine russischsprechende Psychotherapeutin, der sich Kateryna öffnen kann. Doch auch das ist für sie nicht einfach, denn die Frau hat Angst, zu viel von sich und ihrer Identität preiszugeben. Selbst in Deutschland fürchtet sie, entdeckt zu werden.
Die Ukrainerin leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Typisch dafür: Ein Mensch, ohne Vorerkrankung und mit eigentlich guten Bewältigungsstrategien, wird durch schlimme Ereignisse komplett aus der Bahn geworfen.
Übererregt und wachsam.
Auslöser für eine PTBS sei meist ein als lebensbedrohlich empfundenes Erlebnis, berichtet Psychotherapeutin Dr. Christina Jochim, die dem Bundesvorstand der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung angehört. „Bei der PTBS wird das belastende Ereignis immer und immer wieder durchlebt, die Menschen sind übererregt und übermäßig wachsam.“ Die Betroffenen vermieden zudem Situationen, Orte oder Menschen, die an das Erlebte erinnern und Flashbacks erzeugen können. Manche Betroffene zögen sich zurück oder verlören das Interesse an früher wichtigen Dingen oder Aktivitäten. Bei vielen sei das Vertrauen in sich und andere erschüttert. Auch Schlafstörungen sind häufig. Für die Diagnose einer PTBS nach ICD-Standard ist entscheidend, dass die Symptome länger als einen Monat andauern.
Je drastischer das Erlebte, desto eher wird die eigene Widerstandsfähigkeit überrannt.
Jochim berichtet von einer Frau, die ebenfalls aus der Ukraine geflüchtet ist. Mit ihrem vierjährigen Kind reiste sie über überfüllte Bahnhöfe, an denen es immer wieder zu Massenpaniken kam. Kurzzeitig verlor sie im Gedränge ihr Kind. Nun lebt sie in Deutschland, hunderte Kilometer weg von ihrem Mann, der sich in einer von russischen Soldaten eingeschlossenen Stadt befindet. Auch sie begann, sich von anderen Menschen zu isolieren, bekam immer wieder Angstzustände, etwa bei hallenden Stimmen in einem Gebäude. Ihr Kind ließ sie keinen Meter mehr von sich weg. Auch bei dieser Frau wurde eine PTBS diagnostiziert.
Von Februar bis August 2022 kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mehr als 950.000 Menschen aus der Ukraine nach Deutschland, davon die meisten Frauen. Insgesamt trafen in dem Zeitraum 1,8 Millionen Menschen aus aller Welt in der Bundesrepublik ein – Ukrainer machen davon mehr als die Hälfte aus. Die jetzt von dort nach Deutschland kommenden Menschen stammen meist direkt aus Kriegsgebieten und sind daher oft schwer traumatisiert, wie der Geschäftsleiter der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), Lukas Welz, berichtet. Er schätzt, dass mindestens 30 Prozent der Ankömmlinge aus der Ukraine einen psychosozialen Behandlungsbedarf haben.
Nicht ausschließlich Ukrainer stark belastet.
Die Experten wollen solche schlimmen Erfahrungen aber nicht auf Menschen aus der Ukraine reduzieren. Geflüchtete etwa aus Afghanistan oder Syrien hätten Ähnliches oder zum Teil noch Schlimmeres erlebt. „Da sind sehr viele Menschen mit Foltererfahrungen darunter“, weiß Jochim von ihrer Arbeit in einer Berliner Praxis sowie in einer Psychiatrischen Institutsambulanz. Sie berichtet von Personen aus Afghanistan, deren psychischer Zustand sich zum Jahrestag des Abzugs der internationalen Truppen aus dem Land stark verschlechtert hat. Die traumatische Erfahrung hätten sie noch im Heimatland gemacht, etwa durch Misshandlung, die Ermordung von Familienangehörigen, Verfolgung und Krieg. In Deutschland hätten die Menschen dann versucht, Fuß zu fassen. Der Abzug der Truppen sowie die Berichte und Bilder in den Medien dazu in diesem Jahr seien wie „Trigger“ gewesen, die die psychischen Störungen verschlimmert hätten.
In einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) gaben im Jahr 2018 Schutzsuchende aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die Angaben zu traumatischen Ereignissen gemacht haben, zu 60,4 Prozent Kriegserlebnisse an. Bei jedem Dritten (34,8 Prozent) sind Angehörige oder nahestehende Personen verschleppt worden, verschwunden oder gewaltsam ums Leben gekommen (15,4 Prozent). Sehr häufig waren Mehrfachtraumatisierungen. Nur weniger als ein Viertel (22,5 Prozent) hatte selbst keine dieser traumatischen Erfahrungen gemacht.
Auch Selbstheilungskräfte helfen bei Verarbeitung.
Doch nicht jeder Mensch ist nach schlimmen Erlebnissen psychisch dauerhaft belastet. „Es gibt gute Selbstheilungskräfte, die es möglich machen, Erlebnisse zu verarbeiten“, sagt Psychiatrie-Professor Ingo Schäfer, der am Hamburger Universitätsklinikum die Spezialambulanz für Traumafolgenstörungen leitet. Aber ein signifikanter Anteil von Menschen sei mittel- bis langfristig schwer belastet. „Je drastischer das Erlebte, desto eher werden die eigene Widerstandsfähigkeit und die Selbstheilungskräfte überrannt und überfordert“, so Schäfer. Besonders schlimm sind laut Jochim die direkt von Menschen ausgelösten Traumata, durch Krieg, Folter, sexualisierte Gewalt. „Diese sorgen eher langfristig für Probleme, anders als etwa ein Verkehrsunfall, ein Brand oder eine kurz andauernde Naturkatastrophe.“ Außer einer PTBS sind auch Depressionen, Anpassungsstörungen, Angsterkrankungen oder nicht enden wollende Trauer als psychische Reaktionen möglich. Manchmal tritt das psychische Leid erst Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte nach den schlimmen Erfahrungen auf, wie Welz von der Arbeit mit Holocaust-Überlebenden weiß.
Therapie in Stufen.
Bei denjenigen, für die das Erlebte zum permanenten Horror geworden ist, besteht die Therapie aus mehreren Stadien. Zuerst geht es bei einer PTBS darum, den Patienten zu stabilisieren, „äußere und innere Sicherheit herzustellen“, wie Jochim erläutert. Dabei baut der Therapeut eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten auf. Diese Phase kann einhergehen mit Entspannungs- oder Imaginationsübungen, bei denen sich der Betroffene etwa vorstellt, an einem sicheren Ort zu sein. Die Bewältigungsfähigkeiten und die Eigenkontrolle werden so gefördert.
Eine PTBS ist eine psychische Erkrankung, die bei etwa zwei Prozent der Bevölkerung im Laufe des Lebens mindestens einmal vorkommt. Sie wird gemäß der internationalen Klassifikation ICD-10 den Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen zugeordnet. Eine PTBS entsteht durch schreckliche, in der Regel als lebensbedrohlich für sich und andere empfundene Erfahrungen, wie etwa Gewalt. So entwickeln rund 50 Prozent der Kriegs-, Vergewaltigungs- und Folteropfer, 25 Prozent der Opfer von Gewaltverbrechen, 20 Prozent der Soldaten nach Kampfeinsätzen und zehn Prozent der Menschen, die einen schweren Verkehrsunfall oder eine lebensbedrohliche Erkrankung hinter sich haben, eine PTBS. Das Leiden zeichnet sich dadurch aus, dass die Betroffenen das Erlebte nicht loslässt und die belastenden Erinnerungen immer wiederkommen. Das Trauma wird also ständig neu durchlebt, etwa in Form von Flashbacks. Die Bilder und Gefühle werden so empfunden, als würde das Ereignis in dem Moment noch einmal passieren. Die Erkrankten sind zudem übererregt und wachsam, quasi in ständiger Alarmbereitschaft. Sie vermeiden Situationen, Orte und Menschen, die mit dem Erlebten in Verbindung stehen und verlieren das Interesse an Dingen, die ihnen früher wichtig waren. Manche ziehen sich ganz zurück oder werden teilnahmslos. Oft hat das Selbstwertgefühl extremen Schaden genommen.
Kernpunkt der Therapie ist dann die Traumabearbeitung. Das bedeutet nicht weniger als die Konfrontation mit den traumatischen Inhalten. Das schreckliche Ereignis werde dabei nochmal sehr dezidiert durchgesprochen und durchlebt, erläutert Jochim. „Das ist für die Betroffenen eine sehr anstrengende Behandlungsform. Es handelt sich aber trotzdem um das Mittel der Wahl, den Goldstandard sozusagen.“ Die Patienten müssten die Erfahrung machen, dass sie die schlimmen Gedanken überleben und durchstehen können und jetzt in Sicherheit seien.
Auch Traumaexperte Schäfer betont, das Wegdrücken schlimmer Gedanken und ein Vermeidungsverhalten im Alltag führten eher zu einer Generalisierung der Beschwerden, sodass sich die Störung weiter verstärke. „Das ist, wie wenn man einen Ball unter Wasser drückt. Das funktioniert eine Weile, aber wenn die Kräfte nachlassen, dann springt er einem mit voller Wucht ins Gesicht.“ Allerdings werde in den Therapiesitzungen stets darauf geachtet, dass das Wiedererleben des Traumas verträglich für die Patientin oder den Patienten sei. Jederzeit kann der Betroffene „Stopp“ sagen, wenn die Konfrontation zu belastend wird.
Eine letzte Stufe der Therapie ist schließlich die Integration. „Dahinter steht die Einordnung in die eigene Lebensgeschichte und die Ausweitung der Perspektive“, beschreibt Jochim. Die Patienten sollen in dieser Phase zurück in den Alltag finden. Dabei müssen meist neue Bewältigungsstrategien gelernt werden. Oft werden auch die sozialen Fähigkeiten trainiert. Die Personen lernen zudem, wie sie mit einem Rückfall umgehen können.
Viele sind mehrfach traumatisiert.
Eine Hamburger Psychotherapeutin schildert den Fall des 27-jährigen Karim (Name geändert). Der Syrer flüchtete über das Mittelmeer, kam schließlich nach Deutschland. Der junge Mann gilt als mehrfach traumatisiert, erlebte Bombardierungen in seinem Heimatland, wurde inhaftiert und gefoltert. Bei der Flucht über das Mittelmeer wäre das kleine Boot fast gekentert. In seinem Heimatland hatte der Syrer ein Studium begonnen, in Deutschland arbeitete er als Kellner. Karim litt zu Beginn der Behandlung unter typischen Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit Albträumen, Flashbacks, Schlafstörungen. Auch depressive Symptome wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und sozialer Rückzug gehörten zum Beschwerdebild. Der geflüchtete Mann war aufgrund seiner Erfahrungen zugleich überaus misstrauisch gegenüber anderen Menschen, hatte Angst vor der Polizei. Hinzu kam die Sorge um seine Familie, die weiterhin in Syrien lebte, bis hin zu Schuldgefühlen seinen Angehörigen gegenüber. Weiter belastend war für ihn die unklare berufliche Situation.
Fertigkeiten im Umgang mit belastenden Situationen.
In der Therapie ging es zunächst darum, Aktivitäten anzustoßen, die er schon vor seiner Flucht in Syrien gerne ausgeübt hatte, wie etwa Kampfsport. Zugleich wurden ihm Fertigkeiten zum Umgang mit belastenden Situationen vermittelt. Die Traumatherapie führte vorübergehend zu einer Verschlimmerung der Beschwerden. Doch im weiteren Verlauf bildeten sich diese wieder zurück. Insgesamt kann die Therapeutin bei dem jungen Mann deutliche Fortschritte ausmachen. Sämtliche PTBS-Symptome gingen deutlich zurück. „Hilfreich für einen positiven Therapieverlauf waren die Verbesserungen der Lebensbedingungen: Im Anschluss an eine Berufsberatung begann der Patient eine Ausbildung als Bauzeichner, was sich positiv auf sein Selbstwertgefühl auswirkte.“ Zudem wuchs für ihn die Perspektive, seine Familie finanziell unterstützen zu können, wodurch die Schulgefühle nachließen. Durch das Mitwirken im Kampfsportverein knüpfte er Kontakte und machte positive Erfahrungen mit anderen Menschen. Nicht zu unterschätzen sei gewesen, dass Karim als Asylbewerber anerkannt wurde.
Kettenduldung als destabilisierender Faktor.
In der Tat spielen bei der Behandlung von Geflüchteten viele Faktoren nach der Flucht eine negative Rolle. „Postmigrationsstressoren“ nennt Schäfer diese. Dazu zähle ein ungeklärter Aufenthaltsstatus. Christina Jochim verweist in diesem Zusammenhang auf die umstrittene Kettenduldung: „Wenn Duldungen immer nur häppchenweise ausgesprochen werden, ist das ein immer wieder belastender und destabilisierender Faktor.“ Denn es sei ein Problem, wenn Menschen keine gesicherte soziale Umgebung hätten und ihre Abschiebung fürchten müssten. Denn ein Trauma sei ohnehin oft durch einen starken Kontrollverlust und durch das Gefühl der Unsicherheit gekennzeichnet. „Beides wird durch die Kettenduldung verstärkt“, moniert Jochim.
- Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung: Im Fokus – Ukraine-Krieg
- Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer: BAfF
- Koordinierendes Zentrum für traumatisierte Geflüchtete: Centra
- Infos zu PTBS: gesund.bund.de (Suchfeld)
Geflüchtete blieben sehr lange im Ungewissen, kritisiert auch BAfF-Experte Lukas Welz. Zudem würden in der Regel alle Asylbewerber, die sich keine 18 Monate in Deutschland befinden, über das Asylbewerberleistungsgesetz abgedeckt. Eine ärztliche oder zahnärztliche Versorgung wird nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen über die Sozialämter finanziert. Eine Psychotherapie zähle in der Regel nicht dazu, bedauert Welz.
Willkommenskultur wichtig.
Nicht zuletzt hat die Art und Weise, wie geflüchtete Menschen in Deutschland willkommen geheißen werden, Einfluss auf deren psychische Verfassung. „Es ist sehr wichtig, dass sie sich erwünscht und empfangen fühlen“, weiß Schäfer unter anderem durch seine Tätigkeit als Geschäftsführer von „Centra“, einem Zentrum für traumatisierte Geflüchtete in Hamburg. Das sei bei vielen Zugewanderten jedoch nicht der Fall, was „keinen kleinen Teil ihrer Belastung“ darstelle. Schon gleich zu Beginn mache sich bei vielen Ankömmlingen Enttäuschung breit, wenn sie sich etwa in einem zum Aufnahmelager umfunktionierten Container wiederfänden, oft mit drei oder vier anderen Menschen in einem Raum.
Geflüchteten etwa aus Asien oder Afrika mache aktuell der deutlich andere Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten in der Bundesrepublik zu schaffen. „Alles, was den Menschen aus der Ukraine jetzt mit Freuden angeboten wird, haben genauso schwer oder noch schwerer belastete Menschen aus Afghanistan oder Syrien in den vergangenen Monaten nicht von uns erhalten“, gibt Schäfer zu bedenken. Anstelle von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten die aus der Ukraine Eingereisten etwa Sozialleistungen sowie Kindergeld und eine medizinische Versorgung wie ein gesetzlich Krankenversicherter. Durch ehrenamtliches Engagement wurden zahlreiche Hilfs- und Spendenaktionen initiiert. Das „chronische Ungerechtigkeitserlebnis“ mache Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak oder Eritrea zusätzlich krank, sagt Jochim.
Dolmetscher kommen zum Einsatz.
Auch die Therapie an sich ist bei geflüchteten Menschen mit vielen Erschwernissen verbunden, vor allem sprachlichen Barrieren. Meist kommen Dolmetscher zum Einsatz. Allerdings sind diese rar und somit in der jeweiligen Kommune oft nicht greifbar. Das Genehmigungsverfahren für die Übersetzungskosten sei zudem langwierig und aufwendig, kritisiert die Psychotherapeuten-Vereinigung. In den psychosozialen Zentren für Geflüchtete seien Therapien mit Hilfe von Dolmetschern Alltag, die Finanzierung allerdings ein großes Problem, erläutert Welz. Es gebe in manchen Bundesländern oder Städten inzwischen Sprachmittlungspools, auf die die Zentren zugreifen könnten. Doch flächendeckend bestehe so etwas nicht. Die Regierung müsse daher schnell ihre Ankündigung im Koalitionsvertrag umsetzen und die Sprachmittlung zu einer Regelleistung der Krankenkassen machen.
Die Ungewissheit über ihre Zukunft wirkt sich bei traumatisierten Geflüchteten äußerst negativ aus.
Welz verweist in diesem Zusammenhang noch auf ein Sicherheitsproblem. Da es an Übersetzern mangele, werde bei den Einstellungen oft nicht so genau hingeschaut. Hier biete sich ein Einfallstor für ausländische Geheimdienste. Denn die Schilderungen einer im Heimatland politisch verfolgten Person bei einer Therapie könnten von großem Interesse für Spione sein.
Zu wenig Plätze und Therapeuten.
Ein Hauptproblem im Umgang mit Posttraumatischen Belastungsstörungen ist die geringe Zahl an Therapieplätzen. Bei einer Prävalenz von 30 Prozent ergebe sich von allen angekommenen geflüchteten Menschen in Deutschland eine Zahl von bis zu 500.000 Menschen pro Jahr, die einen Behandlungsbedarf hätten, so Welz. „Die Zentren haben jedoch gerade mal eine Kapazität von jährlich 25.000 Personen.“ Die überwiegende Mehrheit geht also leer aus. Natürlich gebe es noch andere psychiatrische Einrichtungen und niedergelassene Therapeuten, die Geflüchteten bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung helfen könnten, doch dort seien die Wartelisten in der Regel ebenfalls lang. Und an Dolmetschern fehle es hier erst recht. Ambulanzen etwa an Hochschulen könnten zwar bei Krisen kurzzeitig intervenieren, aber für eine mittel- bis langfristige Begleitung, auch in Form rechtlicher und sozialer Beratung, seien vor allem die Zentren da. Deren Finanzierung steht jedoch auf tönernen Füßen. Welz fordert daher, diese nachhaltig strukturell zu fördern, damit es künftig mehr statt weniger Plätze gibt. Auch Schäfer verweist darauf, dass sich viele dieser Einrichtungen ausschließlich durch Spenden und Projekte finanzieren. Die von ihm geleitete Einrichtung „Centra“ in Hamburg bilde eine Ausnahme, weil sie eine feste Förderung der Hansestadt erhalte.
Lange Wartezeiten haben negative Folgen.
Lange Wartezeiten auf Psychotherapien können sich negativ auf die Betroffenen auswirken, denn bei seelischen Störungen ist frühe Hilfe notwendig, damit sich das Leiden nicht verfestigt oder weiterentwickelt. Auch Selbsttötungen können die Folge nicht bearbeiteter Traumata sein. Nicht selten trägt zum verzögerten Behandlungsbeginn bei Geflüchteten bei, dass diese sich nicht selbst um Hilfe bemühen. Das liegt zum einen an Unkenntnis über das deutsche Gesundheitswesen. Zum anderen sind es oft schlicht kulturelle Hinderungsgründe, weiß Schäfer. Menschen aus Afrika beispielsweise sei die „sprechende Medizin“ eher fremd. Ein Arzt werde verbunden mit weißem Kittel und Spritze oder Pillen, aber nicht mehr. Schließlich sind es meist Fachanwälte, Betreuer, Sozialberater oder deutsche Gastgeber, die den psychisch kranken Menschen eine Behandlung ans Herz legen oder vermitteln. In manchen Flüchtlingseinrichtungen gibt es Sprechstunden, um Betroffenen einen niedrigschwelligen Zugang zu Beratung und Hilfe zu verschaffen. Eine systematische Früherkennung von seelischem Leid finde jedoch nicht statt, moniert Lukas Welz vom Bundesverband der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer.
Höhere Therapienachfrage durch Corona.
Insgesamt ist in der Gesellschaft in den vergangenen Jahren der Bedarf an psychotherapeutischer Betreuung gestiegen, gerade im Zuge der Corona-Pandemie. Psychotherapeuten berichten, dass seitdem die Zahl an Anträgen stark zugenommen hat. So gebe es etwa Patienten, die mit Covid-19 auf der Intensivstation gelandet seien und im Anschluss Belastungsreaktionen bis hin zu posttraumatischen Symptomen zeigten, schildert Jochim. Andere mussten miterleben, wie ein ansonsten gesunder Mensch durch eine Coronainfektion von jetzt auf gleich aus dem Leben gerissen wurde und sie sich wegen der Schutzauflagen nicht verabschieden konnten. Auch nach der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 gab es viele Betroffene, die eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelten – sei es, weil sie selbst in Lebensgefahr geraten waren oder aber Angehörige oder Nachbarn in den Wassermassen haben untergehen sehen.
Wichtig sind laut Traumaexperte Schäfer für die Zukunft mehr Notfallhilfen und Kriseninterventionen. Direkt nach einem schlimmen Ereignis oder einer Flucht sei die psychische Belastung fast immer hoch. Vielen helfe dann schon ein kurzzeitiges Eingreifen, bei dem etwa Informationen zum Umgang mit dem Erlebten, Entspannungsübungen und Hilfestellungen für eine gute Selbstfürsorge vermittelt werden – und vor allem ein Gefühl der Sicherheit.
Akuthilfe fördern.
Generell müssten Akuthilfen, psychische Erste Hilfe und auch weitergehende Angebote für den Notfall jederzeit zur Verfügung stehen, fordert Schäfer. „Hier gibt es noch große Lücken zu schließen.“ Eine psychosoziale Grundschulung für Menschen im Gesundheitswesen sei unbedingt notwendig. Der Wissenschaftler und Therapeut geht sogar noch weiter und sieht jeden Bürger in der Verantwortung: „So wie wir alle eine Erste-Hilfe-Schulung für den Führerschein gemacht haben, sollten wir auch eine psychische Erste-Hilfe-Übung absolvieren.“