Einwurf

Utopien beflügeln den Wandel

Angesichts allgegenwärtiger Krisen fällt es vielen Menschen schwer, Zuversicht zu entwickeln, sagt Prof. Dr. Stefan Selke. Der Transformationsforscher plädiert für positive Visionen, um gemeinsam die Welt zu verändern.

Porträt von Stefan Selke, Transformationsforscher

Ständig werden Zukunftsszenarien entworfen.

Was jedoch fehlt, sind Wunschbilder und Zukunfts­erzählungen, die die Menschen zu einem notwen­digen Wandel hin – zu einer Transformation – moti­vieren. Gerade Zeitenwenden sollten genutzt werden, um Aufbruchsnarrative zu entwerfen, anstatt bloße Anpassung als gesellschaftliches Leitbild zu etablieren. Zum Glück lassen sich Zukunftsbilder wiederbeleben. Doch dazu braucht es Zukunftseuphorie innerhalb einer Gesellschaft.

In einer Welt, die zunehmend aus kritischen Zonen und quälenden Zielkonflikten besteht, haben zufriedenstellende Lebensentwürfe eher Seltenheitswert. Angesichts dieser allgegenwärtigen Hoffnungslosigkeit entwickeln viele Menschen resignative Zukunftsvorstellungen. Das betrifft einerseits Bürgerinnen und Bürger am unteren Rand der Gesellschaft, andererseits aber auch junge Menschen. Beide Gruppen leiden unter dem „Giving-up/Given-up“-Syndrom. Sowohl die deutsche Sinus-Milieustudie unter Teenagern als auch das Schweizer Hoffnungsbarometer zeigten 2022, was zunehmend fehlt, nämlich die Gewissheit, die (eigene) Zukunft aktiv verändern zu können.

Das Problem ist, dass Zukunftsangst Resonanz und Empathie verhindert. Außerdem führt Anpassungsdruck zur Ausweitung der gesellschaftlichen Kampfzone. Die Entwertung des Sozialen, die Verwertung von Menschen sowie die Diskriminierung sozialer Gruppen werden auf die Spitze getrieben. Eine derart demoralisierte, erschöpfte und entfremdete Gesellschaft braucht dringend ein neuen sozialen Bezugspunkt.

Zukunftseuphorie ist der wirksamste soziale Treibstoff für notwendige Veränderungen.

Grundsätzlich gibt es dafür zwei Wege: Die erste Methode basiert auf Anpassungsdruck – Zukunft „by desaster“. Anpassungserzählungen signalisieren die Bereitschaft, sich mit dem scheinbar Alternativlosen zu arrangieren. Ungerechtigkeiten lassen sich so jedoch niemals aus der Welt schaffen. Anpassung ist zudem ausschließend. Während sich die Mehrheit mühsam, meist durch Verzicht, an neue Lebens­verhältnisse anpassen soll, verweigern die Eliten dauerhaft, ihre Privilegien aufzugeben.

Zum Glück gibt es noch eine zweite Methode: Zukunft „by design“ basiert auf utopischen Wunschvorstellungen und sozial inklusiven Zukunftserzählungen. Wir sollten also gemeinsam an euphorischen Aufbruchserzählungen arbeiten. Gesellschaftsgestaltung, die diesen Namen auch verdient, braucht einen kognitiven Zugang zur Zukunft sowie eine emotionale Verbindung mit stimmigen Zukunftsbildern. Zukunftseuphorie ist die Voraussetzung dafür, den gestörten Zugriff auf die Welt zu korrigieren und einen Beitrag zur Neuausrichtung und Stabilisierung der Gesellschaft zu leisten.

Genau das macht es möglich, Zukunft mitzuerleben und mitzugestalten. Euphorie ist ein Affekt, der mit Vorfreude und Ehrfurcht einhergeht und auf diese Weise eine spezifische Form sozialer Gravitation erzeugt, nämlich Zusammenhalt, Stimmigkeit und Motivation. Wenn wir uns die Zukunft als Teamsport vorstellen, hilft Zukunftseuphorie als Generator von Zuversicht, um Prognosen, Simulationen und Anpassungsimperative zu überwinden. Aus einer Ethik der Wahrscheinlichkeiten wird eine Ethik der Möglichkeiten, die Menschen zusammenbringt. Sie fördert wache, kreative und kritische Bürgerinnen und Bürger, die sich gemeinsam für eine wünschenswerte Welt engagieren, ohne dass ihnen Autoritäten sagen müssten, was zu tun ist.

Das Soziale sollte daher nicht mehr als Schicksal, sondern als gestaltbares Handlungsfeld empfunden werden, bei dem eine neue Form der Gemeinschaft entstehen darf. Dieses „neue Wir“ wäre dann das Ende von Zufallsgruppen, die nur durch Spezialinteressen zusammengehalten werden. Zukunfts­euphorie ist wahrscheinlich der wirksamste soziale Treibstoff für notwendige Veränderungen. Sie leis­tet etwas, worauf es gerade in Krisenzeiten ankommt: lähmende Angst, blinde Hoffnung und naive Zukunftsgläubigkeit in eine Poesie der Hoffnung zu verwandeln.

Stefan Selke ist Professor für „Gesellschaftlichen Wandel“ und Forschungsprofessor für „Transformative und Öffentliche Wissenschaft“.
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