Gesundheitssystem

Mit Reformen raus aus den Miesen

Rechtsaufsicht des Staates statt Weisungsbefugnis – seit 140 Jahren bewährt sich die selbstverwaltete soziale Krankenversicherung. Wegen ihrer relativen Unabhängigkeit ist sie weder tages- noch parteipolitischen Launen ausgeliefert – ein klarer Vorteil zu staatlichen Versorgungssystemen. Dennoch ist die Politik gefordert. Denn um die Finanzlage der Kassen deutlich zu verbessern, muss sie für effiziente Versorgungsstrukturen sorgen. Von Hartmut Reiners

Bis heute gilt Reichskanzler Otto von Bismarck als der Vater der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dies ist aber eher eine Legende als eine historische Tatsache. Zwar hatte er mit der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 die Einführung einer So­zialversicherung für Arbeiter angekündigt. Aber er wollte keine eigenständige Krankenversicherung, sondern diese nur als Teil einer Invaliditätsversicherung. Ihm schwebte ein paternalistisches System vor, mit dem der Staat für die Arbeiterklasse sorgen sollte wie die feudalen Gutsherren für ihr Gesinde. Damit ­wollte er zugleich den Sozialdemokraten und Gewerkschaften das Wasser abgraben, die er im Oktober 1878 mit dem Sozialistengesetz verboten hatte. Der Staat sollte sich nicht nur als Ordnungsmacht präsentieren, sondern auch als Wohltäter.

Damit stieß er auf den Widerstand der liberalen Fortschrittspartei und der katholischen Zentrumspartei, die im Reichstag gemeinsam die Mehrheit hatten. Sie wehrten sich gegen die Auflösung der vorhandenen betrieblichen und genossenschaftlichen Hilfskassen und setzten deren Integration in eine vom Staatshaushalt unabhängige und selbstverwaltete gegliederte GKV durch. Bismarck bezeichnete sie später als ein ihm von seinen eigenen Beamten „untergeschobenes Kind“.

Selbstverwaltung als politisches Prinzip.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland machte aus diesem politischen Bastard ein Element der Demokratie. Das Sozialstaatspostulat in Artikel 20 des Grundgesetzes beruht auf dem Gedanken, dass die Verfassung Regeln zur Politikgestaltung vorgibt, aber keine konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Instrumente. Diese gehören in Parteiprogramme, aber nicht in die Verfassung, konstatierte der politische Vater dieser Maxime, der Sozial­demokrat Carlo Schmid.
 
Die Selbstverwaltung der Sozialversicherung beruht auf diesem Grundsatz. Die Organe dieses Systems sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts zwar Teil des Staates, aber keine nachgeordneten Behörden des Regierungsapparates. Der hat die Rechtsaufsicht, aber keine Weisungsbefugnis wie gegenüber Bundes- und Landesämtern.
 
In der GKV hat die Selbstverwaltung zwei Ebenen. Zum einen wird das operative Geschäft der gesetzlichen Kranken­kassen paritätisch von Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber beaufsichtigt. Die zweite Ebene ist die gemeinsame Selbstverwaltung der Krankenkassen und der Leistungs­erbringer. Sie konkretisiert den vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmen der Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung sowie der Gestaltung und Vergütung von Leistungen. Das ist ein großer Vorteil, der vor allem im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zum Tragen kommt.

  • Die Gesundheitswirtschaft ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in Deutschland mit einer Bruttowertschöpfung von insgesamt 439,6 Milliarden Euro (Wachstum seit 2021: 5,9 Prozent). Ihr Anteil an der Bruttowertschöpfung der Gesamtwirtschaft beträgt 12,7 Prozent.
  • Rund jeder achte Euro Bruttowertschöpfung wird in der Gesundheitswirtschaft generiert. Mit jedem in der Gesundheitswirtschaft produzierten Euro entstehen 0,76 Euro zusätzliche Wertschöpfung in der Gesamtwirtschaft.
  • Mit mehr als acht Millionen Erwerbstätigen ist etwa jeder sechste Arbeitsplatz in Deutschland in der Gesundheitswirtschaft angesiedelt (Wachstum seit 2021: 3,5 Prozent).
  • Die Gesundheitswirtschaft ist ein Jobmotor und hat seit 2013 mehr als eine Million Stellen geschaffen. Die Erwerbstätigenzahlen in der medizinischen Versorgung sind seit 2013 um 2,7 Prozent jährlich gewachsen.

G+G-Redaktion; Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (Hrsg.):  Gesundheitswirtschaft. Daten 2022. Ergebnisse der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung 2022 (Stand: April 2023). Download

In Paragraf 2 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) steht nur, dass die von der GKV getragenen Leistungen „dem all­gemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen (haben)“. Welche konkreten Leistungen diesen Kriterien entsprechen, legen nicht, wie in anderen Gesundheitssystemen, Regierungsbehörden fest, sondern der vom GKV-Spitzen­verband, der Kassen(zahn-)ärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft getragene GBA. Er ist eine zentrale Institution des GKV-Systems zur Steuerung seiner Leistungen und gilt als „kleiner Gesetzgeber“. Seine relative Unabhängigkeit von der Politik hat große Vorteile gegenüber staatlichen Versorgungssystemen, die den Launen des Politikbetriebs stärker ausgesetzt sind.

Großes Wachstumspotenzial.

Das GKV-System hat sich seit Bismarcks Zeiten grundlegend verändert. Noch Anfang der 1950er-Jahre war das Krankengeld der größte Leistungsbereich der Krankenkassen, der sich seit dem Lohnfortzahlungsgesetz von 1969 nur noch auf eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Wochen beschränkt. Mit der Expansion des Medizin­systems wurde die GKV zur Steuerungszentrale eines dyna­mischen Wirtschaftszweigs. Er umfasste Ende der 1960er-Jahre sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Heute liegt diese Quote doppelt so hoch – mit weiter steigender Tendenz. Das Gesundheitswesen ist heute mit über acht Millionen Erwerbstätigen die größte Dienstleistungsbranche mit einem jährlichen Zuwachs von mehr als 100.000 Arbeitsplätzen (siehe Kasten „Daten zur Gesundheitswirtschaft“).
 
Der Wirtschafts-Sachverständigenrat hatte schon vor 40 Jahren auf dieses Wachstumspotenzial hingewiesen, aber auch auf dessen Kehrseite. Die Gesundheitsausgaben wachsen stärker als die Löhne und das Bruttoinlandsprodukt. Dies führt zwangsläufig zu steigenden Krankenkassenbeiträgen. Deren Durchschnitt lag vor 40 Jahren bei 8,2 Prozent des versicherungspflichtigen Einkommens und ist heute doppelt so hoch. Diese Entwicklung bringt zwar politischen Handlungsbedarf, ist aber nicht annähernd so dramatisch, wie es die seit 50 Jahren die Gesundheitspolitik begleitende Phrase von der „Kostenexplo­sion“ suggeriert.

Ökonomischer Strukturwandel führt zu höheren Ausgaben.

Die Dynamik der Gesundheitsausgaben ist die Folge eines ökonomischen Strukturwandels. Ärztliche und pflegerische Tätig­keiten sind personenbezogene Dienste, die wegen ihrer gegenüber der Industrieproduktion geringeren Rationalisierbarkeit einen immer größeren Anteil des Arbeitskräftepotenzials und der Wertschöpfung beanspruchen. Für die Verbraucherinnen und Verbraucher drückt sich dieser Prozess in relativ zum Einkommen sinkenden Konsumgüterpreisen und steigenden Ausgaben für Dienstleistungen aus. Vor 40 Jahren kostete ein Farbfernseher etwa die Hälfte des durchschnittlichen Monatseinkommens. Heute bekommen Verbraucher ein technisch weit besseres Gerät schon für einen Wochenlohn. Dafür sind personenbezogene Dienste wie medizinische Behandlungen und pflegerische Betreuung teurer als früher. Das ist eigentlich kein wirkliches ökonomisches Problem, sondern nur eine Verschiebung in den Lebenshaltungskosten bei zugleich steigender Produktivität und wachsenden Löhnen. Aber woher kommt dann die ständige Aufregung über die steigenden Gesundheitsausgaben?

Beitragsstabilität wegen der Kostenentwicklung nicht einhaltbar.

Der Streitpunkt ist der in Paragraf 71 SGB V festgehaltene Grundsatz der Beitragssatzstabilität. Diese Maxime hat sich zu einer Lebenslüge der Gesundheitspolitik entwickelt, weil sie angesichts der realen Kostenentwicklung gar nicht einzuhalten ist, ohne die Leistungen der GKV substanziell zu verschlechtern. Im SGB V steht, dass der medizinische Fortschritt allen Ver­sicherten zugutekommen muss (siehe oben). Das ist wegen der besonderen Dynamik des Gesundheitswesens auf die Dauer nicht ohne überproportional zur allgemeinen Produktivitätsentwicklung steigenden Ausgaben möglich. Daher darf der Grundsatz der Beitragssatzstabilität nicht als starre Sozial­abgabenbremse verstanden werden, sondern als Anweisung, die ökonomischen Folgen von gesundheitspolitischen Entscheidungen zu bedenken.

Ineffektive Strukturen verursachen hohe Kassendefizite.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Das aktuelle Defizit der GKV ist nicht unvermeidlich, sondern die Folge von ineffektiven Strukturen und Finanzierungslücken unseres Gesundheits­wesens. Wir leisten uns ein absurdes Nebeneinander von ­Mangel und Überfluss. Die starre Grenze zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sorgt für teure Überkapazitäten in den Krankenhäusern bei einem gleichzeitigen Mangel an Pflegekräften. In der ambulanten ärztlichen Versorgung erzielen Praxen in technikintensiven Disziplinen komfortable Erträge, während die Praxen in der Allgemein- und Kindermedizin unter hohem Zeitdruck stehen und oft Mühe haben, ihre Pa­tientinnen und Patienten bedarfsgerecht zu versorgen. Im Arzneimittelbereich sorgen Geschäftsmodelle der Pharma­industrie für Versorgungsengpässe und abenteuerliche Preise in bestimmten Therapiesegmenten.

Wir leisten uns ein absurdes Nebeneinander von Mangel und Überfluss.

Aber auch wenn diese Reformbaustellen zielgerichtet angepackt werden, können sie nur dazu beitragen, das Wachstum der Gesundheitsausgaben in geordnete Bahnen zu lenken. Die Ausgaben für die medizinische und pflegerische Versorgung werden auch bei einer effizienten Versorgungssteuerung mittel- bis langfristig stärker steigen als das Bruttoinlandsprodukt und die Löhne. Es gibt drei Möglichkeiten, mit diesem Phänomen umzugehen:

  • Die Ausgabenzuwächse werden privatisiert, gegebenenfalls flankiert durch einen aus dem Bundeshaushalt finanzierten Sozialausgleich.
  • Der Bund erhöht seine Zuschüsse zum Gesundheitsfonds.
  • Reformen der Versorgungsstrukturen und der Finanzierungsbasis der GKV sorgen für eine moderate Beitragsentwicklung.

Höhere Selbstbehalte sind ein Holzweg.

Bernd Raffelhüschen, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Freiburg, brachte sich unlängst mit der Forderung nach deutlich erhöhten Selbstbehalten bei der Inanspruchnahme von GKV-Leistungen ins Gespräch. Nur so ließen sich die Ausgaben der Kranken­kassen in den Griff bekommen. Diese Behauptung ist ebenso alt wie substanzlos.
 
Kenneth Arrow, einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, hat bereits vor 60 Jahren darauf hingewiesen, dass das Gesundheitswesen von Marktversagen geprägt ist. Die Versorgungsstrukturen und die Arbeitskultur des Medizin­systems bestimmen wesentlich den Umfang der Leistungen.

80 Prozent der Gesundheitsausgaben entfallen auf 20 Prozent der Patientinnen und Patienten, alles schwer oder chronisch kranke Menschen, die auf medizinische Betreuung zwingend angewiesen sind. Es gibt im Gesundheitswesen keine Kon­sumentensouveränität – eine wesentliche Voraussetzung für die Effektivität von Marktpreisen und finanziellen Anreizen.
 
Deshalb ist die Vorstellung realitätsfremd, über Zu­zahlungen und Kostenerstattung ließen sich die Behandlungskosten steuern und die Patientinnen und Patienten zu Controllern von Arztpraxen und Krankenhäusern machen. Glauben die Verfechter dieser Forderung allen Ernstes, dass medizinische Laien die oft seitenlangen Arztrechnungen mit entsprechenden Gebührenordnungspositionen auf ihre Angemessenheit überprüfen können? Das kann selbst ich als ehemals für dieses Sachgebiet zuständiger Ministerialbeamter nicht von mir behaupten.

Tabelle mit Überblick der Leistungen und Mehrausgaben der PKV

Für die gleichen Leistungen gibt die PKV insgesamt fast 30 Prozent mehr aus als die GKV. Spitzenreiter bei den Unterschieden ist mit rund 59 Prozent die  zahnmedizinische Behandlung gefolgt von der ambulante Behandlung (rund 51 Prozent Mehrausgaben). Dass es in der stationären Versorgung keine Kostenunterschiede zwischen PKV und GKV gibt, liegt an den für beide gleichen DRG-Fallpauschalen.

Quelle: WIP 2023; Zusammenstellung Reiners

Das von Professor Raffelhüschen empfohlene Konzept einer drastischen Ausweitung der Selbstbeteiligung ist kein „großer Wurf“, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ vom 23. Februar 2023) meint, sondern abgeschmackt. Schon vor 40 Jahren fasste der damalige Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), Ulrich Geißler, diesen empirisch gründlich belegten Sachverhalt so zusammen: Selbstbeteili­gungen sind entweder hoch und ausgabenwirksam, haben aber unerwünschte soziale und gesundheitliche Effekte. Oder sie sind niedrig und sozialverträglich, haben dann aber keinen Einfluss auf die Ausgabenentwicklung.

Duales Versicherungssystem ökonomisch nicht begründbar.

Auch die Behauptung der FAZ (23. September 2023), die Private Krankenversicherung (PKV) sei effizienter als die GKV, ist aus der Luft gegriffen. Berechnungen des Wissenschaftlichen Instituts der PKV (WIP) zeigen, dass die PKV für die gleichen Leistungen fast 30 Prozent mehr ausgibt als die GKV (siehe Tabelle „PKV ist teurer als die GKV“). In der ambulanten ärztlichen Versorgung liegt diese Quote sogar bei über 50 Prozent. In der sta­tionären Behandlung gibt es überhaupt keine Kosten­unterschiede, weil die PKV die gleichen DRG-Fallpauschalen zahlt wie die GKV. Für den Privatpatientenstatus mit komfortablerer Unterbringung und Chefarztbehandlung ist eine Zusatzversicherung erforderlich, die auch über sechs Millionen GKV-Mitglieder haben. Und bei den Arzneimittelausgaben gibt es kaum Unterschiede zwischen GKV und PKV, weil für letztere die gleichen Apo­thekenpreise gelten. Hier hat die GKV zudem über Rabatt­verträge mit den Herstellern größere Einsparmöglichkeiten als die PKV. Alles in allem lässt sich das duale System von GKV und PKV ökonomisch nicht begründen. Das hat der Wirtschafts-Sach­verständigenrat schon 2004 festgestellt.

Privatisierung von Behandlungskosten führt in die Irre.

Die Privati­sierung von Behandlungskosten kann zwar die Sozialabgaben senken oder konstant halten. Aber damit werden die Ausgaben in die privaten Haushalte verlagert und die dadurch ent­stehenden Kosten bei den nächsten Tarifverhandlungen geltend gemacht. Hinzu kommt, dass mit der Privatisierung von Gesundheits­ausgaben der Einfluss der Selbstverwaltungsorgane auf die Kostenentwicklung sinkt. Ich kann daher den Beifall, den Professor Raffelhüschen von Arbeitgeberverbänden bekommen hat, auch aus deren Perspektive nicht nachvollziehen.

Steuerfinanzierung ist nicht kosteneffektiv.

Die Verlagerung von GKV-Ausgaben in den Bundeshaushalt, wie sie der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, vorschlug (FAZ vom 17. November 2020), ist ebenfalls nicht kosteneffektiv, sondern eher ein fiskalischer Rohrkrepierer. Das musste bereits 2010 der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler erfahren. Der FDP-Politiker wollte die GKV-Beiträge auf eine einheitliche Kopfpauschale mit einem aus Steuern finanzierten Sozial­ausgleich umstellen. Das Bundesfinanzministerium berech­nete seinerzeit die fiskalischen Folgen dieser Idee:

  • Bei einer Finanzierung aus der Lohn- und Einkommenssteuer müsste diese linear um fünf beziehungsweise drei Prozent angehoben werden.
  • Die Finanzierung des Sozialausgleichs über die Mehrwert­steuer hätte eine Anhebung des Regelsatzes um zwischen zwei und vier Prozent zur Folge.

Daraufhin ist das Projekt beerdigt worden.

Alle Ansätze, das GKV-Budget mit Steuermitteln zu ent­lasten, sind allenfalls volkswirtschaftliche Nullsummenspiele. Die Ausgaben würden nur von einem Träger auf einen anderen verlagert, wobei eine Steuerfinanzierung nur dann gegenüber dem Status quo der lohnbezogenen Beitragsfinanzierung keine negativen Effekte hätte, wenn sie sich nur aus den Einkommens-, Erbschafts- und Vermögenssteuern speisen würde. Aber das ist aus fiskalischen und verfassungsrechtlichen Gründen nicht machbar. Die Finanzierung über Verbrauchs- und Umsatz­steuern, die etwa die Hälfte der Staatseinnahmen ausmachen, führt zu höheren Konsumgüterpreisen und belastet damit die unteren und mittleren Einkommen stärker als die oberen. Das wäre eine Pervertierung des Solidarprinzips.

Versorgungsqualität leidet.

Mit wachsender Steuerfinanzierung der GKV drohen auch problematische Folgen für die Versorgungsqualität. Die relative Unabhängigkeit des GKV-Systems von tages- und parteipolitischer Einflussnahme ist, wie erwähnt, ein hohes Gut. Internationale Vergleiche haben gezeigt, dass steuerfinanzierte Systeme eher zur Vernachlässigung der Infrastruktur des Gesundheitswesens neigen als Sozialversicherungssysteme. Wachsende Zuschüsse des Bundes zum Gesundheitsfonds sind ein süßes Gift, das stabile Beitragssätze mit Steuer­erhöhungen und einem wachsenden Einfluss politischer und ökonomischer Interessen erkauft.

Strukturen reformieren statt Kosten verschieben.

Sicher, das Selbstverwaltungsprinzip hat die Gesundheitspolitik nicht einfacher gemacht. Es haben sich etwa in den Vergütungs­systemen für Arztpraxen und Krankenhäuser bürokratische Abläufe und Fehlanreize eingeschlichen, die kaum noch kommunizierbar sind. Auch genügen die segmentierten Versorgungsstrukturen mit getrennten politischen Zuständigkeiten schon lange nicht mehr den Anforderungen der modernen Medizin, die auf Kooperation und Integration der Einrichtungen und Berufe angewiesen ist. Der Gesundheits-Sachverständigenrat und zahlreiche Expertisen haben diesen Sachverhalt seit mehr als 20 Jahren mehrfach belegt.

Segmentierte Strukturen genügen nicht mehr den Anforderungen der modernen Medizin.

Es fehlt eine politische Gesamtverantwortung für die flächendeckende Sicherstellung der medizinischen Versorgung. Das Grundgesetz gibt den Ländern die Zuständigkeit für die all­gemeine Daseinsvorsorge, zu der die Gewährleistung einer umfassenden gesundheitlichen Versorgung fraglos gehört. Daher liegt die scheinbar einfachste Problemlösung in der Übertragung der Verantwortung für die Sicherstellung der gesamten gesundheitlichen Versorgung auf die Länder. Aber das ist im deutschen Gesundheitswesen mit seiner Aufgabenteilung zwischen Regierungsbehörden und den Institutionen der Selbstverwaltung keine tragfähige Option.

Sektorenübergreifende Versorgungsplanung neu ordnen.

Es geht deshalb darum, die Beziehungen zwischen den politischen Instanzen und den Selbstverwaltungsorganen der GKV auf Landes­ebene in einer sektorenübergreifenden Versorgungs­planung neu zu ordnen. Eine solche Reform liegt auch im Interesse der Länder, die heute nur die Verantwortung für die sta­tionäre Versorgung haben. Sie stehen vor der Wahl, angesichts der Ambulantisierung der Medizin ihren gesundheitspolitischen Einfluss zu verlieren oder aber grundlegende Reformen in Gang zu setzen, die ihnen gemeinsam mit den Gremien der Selbst­verwaltung effektive gesundheitspolitische Handlungsspiel­räume in einem integrierten Versorgungssystem eröffnen.

Mauer zwischen ambulant und stationär einreißen.

Die politische Krux eines solchen Projekts besteht darin, dass ihm alle Länder zustimmen müssen. Es bedarf hier wohl keiner weiteren Er­läuterung der Schwierigkeiten, diesen Konsens herzustellen. Aber eines ist sicher: Ohne eine institutionalisierte Kooperation der Landesbehörden und der Selbstverwaltungsorgane im Gesundheitswesen lässt sich die unsinnige Mauer zwischen ambulanter und stationärer Versorgung nicht einreißen. Man darf gespannt sein, welche Lösungen die Krankenhausreform für dieses Problem findet.

Der Beitrag basiert auf dem bei der Jubiläumsveranstaltung „Stabil und verlässlich, auch in turbulenten Zeiten: Die soziale Selbstverwaltung“ gehaltenen Vortrag zum 140-jährigen Bestehen der AOK.

Hartmut Reiners ist Gesundheitsökonom und Publizist.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: Illustration: Oliver Weiss