Bei der Behandlung sollten Patienten in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden.
Evidenzbasierte Medizin

Stand der Wissenschaft für die Praxis

Medizinische Leitlinien sollen Ärzten helfen, Patienten fachgerecht zu behandeln. Doch bei ihrer Umsetzung gibt es Defizite, wie der aktuelle Versorgungs-Report aus dem Wissenschaftlichen Institut der AOK aufzeigt. Von Frank Brunner

Einen auffälligen Test

hatte Alexander Riese schon hinter sich. Nachdem auch die Nachkontrolle eine erhöhte Konzentration an „Prostata-spezifischem Antigen“ (PSA) in Rieses Blut anzeigte, sagte sein Arzt zu ihm: „Ich würde dringend eine Biopsie empfehlen.“ Im Krankenhaus entnahm ein Urologe die Gewebeprobe, schickte sie ins Labor, um wenig später zu sagen: „Eine Operation ist unbedingt notwendig.“ Mögliche Alternativen nannte er nicht. Erst auf Nachfrage erklärte der Arzt weitere Behandlungsmöglichkeiten, wie Strahlentherapie, Hormontherapie oder Chemotherapie. Allerdings nur „oberflächlich“, erinnert sich Riese. Er habe sich schließlich über das Internet informiert.

Patienten einbeziehen.

Rieses Geschichte ist eine von zehn Erfahrungsberichten im aktuellen Versorgungs-Report, herausgegeben vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO). Darin analysieren Mediziner und Gesundheitsökonomen die Formulierung, Implementierung und Evaluation von Leitlinien. Die Empfehlungen zitieren den gegenwärtigen medizinischen Erkenntnisstand, um Ärzte, Pflegekräfte und Angehörige bei Therapieentscheidungen zu unterstützen. Das Register der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) enthält mehr als 850 solcher Empfehlungen (siehe Grafik „Leitlinien gewinnen an wissenschaftlicher Schärfe“). Dr. Monika Nothacker, stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der AWMF und Mitherausgeberin des Versorgungs-Reports, sagt: „Leitlinien sind keine starren Handlungsanweisungen, sondern Handlungskorridore.“ Eines ist Nothacker wichtig: „Patienten sollten in die Entscheidungsfindung einbezogen werden.“ Doch das geschieht nicht immer, wie das Beispiel von Alexander
Riese und anderer Krebskranker beweist.

Kommunikation verbessern.

Gerhard Rasokat saß hinterm Steuer seines Wagens als der Arzt anrief. Schlechte Nachrichten, der PSA-Test zeige erhöhte Werte. Welche Therapie er empfehle, fragte Rasokat. „Ja, was denn wohl?“, antwortete der Arzt, „Operation oder Bestrahlung.“ Kurz darauf legte er auf. Mit einem „Stück Ratlosigkeit“ sei er zurückgeblieben, resümiert Rasokat heute. Bei Klaus Kronewitz riet ein Arzt, die Prostata chirurgisch entfernen zu lassen.

Die aktuelle Ausgabe des Versorgungs-Reports, herausgegeben vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO), widmet sich der Bedeutung von medizinischen Leitlinien in der Gesundheitsversorgung. Die Beiträge setzen sich mit der Praxis von Leitlinien auseinander. Sie beschreiben Methodik und Verfahren zur Erstellung vertrauenswürdiger Leitlinien sowie zu ihrer Evaluation. Sie berichten über die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zur Umsetzung von Leitlinienempfehlungen. Zudem beleuchtet der Report auf Basis von AOK-Abrechnungsdaten die Häufigkeit von Erkrankungen und Behandlungen in Deutschland und nimmt dabei die Auswirkungen der Pandemie in den Blick.

Christian Günster, Jürgen Klauber, David Klemperer, Monika Nothacker, Bernt-Peter Robra, Caroline Schmuker (Hrsg.): Versorgungs-Report: Leitlinien – Evidenz für die Praxis. 310 Seiten, 59,95 Euro. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin. Bestellung unter mwv-berlin.de oder Open Access unter mwv-open.de

„Mögliche Nebenwirkungen, wie Impotenz oder Inkontinenz wurden nicht angesprochen.“ Dabei rät die entsprechende Leitlinie, Patienten alle Optionen, Erfolgsaussichten und Nachteile zu erläutern. Eine Umfrage, die der Versorgungs-Report zitiert, ergab jedoch, dass 58 Prozent von 3.000 Befragten beim Arzt noch nie an einer Therapiewahl beteiligt gewesen waren. Nothacker will deshalb Berufseinsteiger sensibilisieren. „Wir bemühen uns von Seiten der AMWF, das Thema Kommunikation in der Medizinerausbildung mehr in den Mittelpunkt zu rücken.“
 
Eine andere Möglichkeit, Patienten stärker zu berücksichtigen: Betroffeneninitiativen bereits bei der Leitlinienerstellung einbinden – durch Konsultationen, Workshops oder als Teil des Autorenteams. Teilweise geschieht das schon. Auch eine weitere Idee ist ausbaufähig. Neben Leitlinien für medizinisches Personal erarbeiten Experten zusätzliche „Leitlinienbasierte Entscheidungshilfen“, die sich an Laien richten.
 
Nachholbedarf existiert aber nicht nur beim Aspekt Patientensouveränität. Bei der Vorstellung des Versorgungs-Reports sprach Mitherausgeberin Nothacker ein heikles Thema an: Interessenkonflikte bei Leitlinien-Autoren. 2010 tauchte das Problem zum ersten Mal auf. Seinerzeit klagte eine Patientenorganisation von Borreliose-Betroffenen gegen die Behandlungsleitlinien. Die Leitlinienautoren seien von Pharmaunternehmen beeinflusst und hätten deshalb bestimmte Antibiotika für eine mehrwöchige Therapie empfohlen, lautete der Vorwurf. „Richtig war, dass Ärzte, die bei Borreliose Antibiotika empfahlen, Antibiotikahersteller beraten und das nicht offengelegt hatten“, ­bestätigt Nothacker, fügt aber hinzu: „Interessanterweise mussten die Leitlinien nicht geändert werden, denn rein fachlich war daran nichts auszusetzen.“

Transparenz herstellen.

Ein Dilemma bleibt: Wer Leitlinien aufstellen kann, ist Spezialist auf seinem Gebiet, vertraut mit dem neuesten Forschungsstand. Für Spezialisten seien Kooperationen mit Pharmafirmen aber unerlässlich, etwa um die Wirkung neuer Medikamente zu analysieren. Sagen die Spezialisten. Sollen diese Koryphäen ausgerechnet über jene Leitlinien nicht mit abstimmen, für die sie fachlich prädestiniert sind? „Grundsätzlich finde ich es richtig, dass Autoren bei Interessenkonflikten nicht mitentscheiden; ich sollte keine Firma beraten und gleichzeitig deren Produkt empfehlen“, sagt AWMF-Wissenschaftlerin Nothacker. Wie so oft liegt die Lösung im Kompromiss – und der heißt in dem Fall Transparenz.

Säulendiagramm, das eine Querschnittsanalyse zum 1.11. eines Jahres zeigt

Von den 850 im qualitätsgesicherten Register der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) im Jahr 2022 verzeichneten Leitlinien für die Behandlung von Patientinnen und Patienten waren 201 S3-Leitlinien. Sie basieren auf Evidenz und Konsens eines repräsentativen Gremiums. Im Jahr 2010 waren es noch unter 100 S3-Leitlinien.

Quelle: Versorgungs-Report 2023, WIdO

Leitlinienautoren müssen Verbindungen zur Industrie offenlegen. Anschließend stuft die AWMF mögliche Abhängigkeiten in die Kategorien „gering“, „moderat“ und „hoch“ ein. Ein Kriterium ist, wie lang Kontakt zu einem Unternehmen besteht: Hat der Arzt nur einmal einen von Pharmaunternehmen bezahlten Vortrag gehalten? Oder berät er den Hersteller jahrelang? Ein anderer Faktor ist die Honorarhöhe. Am Ende können Leitlinienautoren wählen, ob sie sich enthalten, abstimmen oder die Variante „Abstimmung mit Interessenkonflikt“ nutzen. Wer wann wie wofür votiert hat, ist für alle Interessierten im AWMF-Onlineportal einsehbar.

Routinedaten ausgewertet.

Nicht nur die Leitlinienformulierung, auch die Leitlinienanwendung ist verbesserungswürdig, wie der Versorgungs-Report offenbart. Behandlungsempfehlungen führten häufig verspätet zu einer adäquaten Patientenversorgung, so das Fazit. Die Bilanz falle „sehr gemischt“ aus, sagt Christian Günster, Leiter des Bereichs Qualitäts- und Versorgungsforschung beim WIdO. So zeigten Auswertungen, basierend auf AOK-Routinedaten, dass Patienten nach einem Herzinfarkt meist die in den Leitlinien vorgesehenen Medikamente wie Statine oder Blutverdünner erhalten. Aber es seien deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern erkennbar: „Frauen sind schlechter versorgt als Männer, sie erhalten deutlich seltener die angezeigten invasiven Therapieverfahren“, kritisiert Günster. Bei Frauen ab 80 Jahren liege die Behandlungsrate fast zehn Prozent niedriger als bei Männern gleichen Alters.

Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO): Versorgungs-Report 2023

Auch beim Restless-Legs-Syndrom, eine häufige neurologische Erkrankung, gebe es deutliche Defizite in der Umsetzung der Therapieempfehlungen: „In der aktuellen Leitlinie wird die Behandlung mit dem Medikament Levodopa aufgrund von hohen Risiken nur vorübergehend empfohlen“, erklärt Günster. Die Analyse zeige aber, dass etwa ein Viertel der diagnostizierten Patienten trotzdem eine Dauertherapie erhalten. 30 Prozent aus dieser Gruppe wurden sogar länger als zwei Jahre therapiert. Besonders herausfordernd ist die Leitlinienumsetzung bei neuen Therapien wie beim Lungenkrebs. Zwar existiert mit dem nationalen Netzwerk genomische Medizin dafür eine Struktur von spezialisierten Zentren und Netzwerkpartnern. Allerdings werde ein Drittel der Neuerkrankten außerhalb des Netzwerks behandelt, moniert Professor Jürgen Wolf, Ärztlicher Leiter des Centrums für Integrierte Onkologie des Universitätsklinikums Köln.

Dr. Gerhard Schillinger, Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband, sagte bei der Vorstellung des Versorgungs-Reports in Berlin: „Die zu langsame Umsetzung von Leitlinien ist ein weltweites Problem.“ Es gehe nicht darum, Ärzte zu kritisieren, so Schillinger, sondern sie „bei der Leitlinienumsetzung zum Wohle der Patienten zu unterstützen“.

Frank Brunner ist Redakteur im KomPart-Verlag.
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