Erkaufte Zeit
Nach der Reform ist vor der Reform. Dieser Spruch passt bei der Anfang Juli in Kraft getretenen Pflegereform der Ampel-Koalition in besonderer Weise, wie Norbert Wallet aufzeigt.
Reformen sind auch nicht mehr das,
was sie einmal waren. Die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) doch ziemlich großspurig als großen Schritt gepriesene Pflegereform verdient diesen Namen eigentlich gar nicht. Pflegegeld und Pflegesachleistung steigen zwar, die Beteiligung der Pflegeversicherung an den vollstationären Eigenanteilen auch. Und die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes zur angemessenen Berücksichtigung von Kindern bei der Beitragsbemessung wird ebenfalls umgesetzt. Eine politisch-gestalterische Leistung lässt sich aber schon deshalb in den Maßnahmen nicht erkennen, weil die Versicherten die Kosten der Verbesserungen durch höhere Beiträge zu einem guten Teil selbst tragen müssen.
Die Reform verschafft allenfalls eine Denkpause.
Der eigentliche Effekt der Reform besteht im Erkaufen von Zeit. Die Finanzlage der Pflegeversicherung ist für den Rest der Legislaturperiode wohl stabil. Das ist angesichts des noch völlig unüberschaubaren Finanzbedarfs an anderer Stelle des Gesundheitswesens – man bedenke die noch gar nicht überschaubaren Kosten der Krankenhaus-Reform – keine Kleinigkeit. Aber die strukturellen Probleme der Pflegeversicherung bleiben komplett weiter bestehen. Insofern verschafft die Pflegereform allenfalls eine Denkpause.
Die sollte genutzt werden, um das Problem in den Blick zu nehmen, dass die derzeit über Beitragserhöhungen generierten Mehreinnahmen zu einem wichtigen Teil nicht in die Versorgung fließen können, solange nennenswerte Mittel für versicherungsfremde Leistungen zweckentfremdet werden. Damit ist auch das Thema der Rentenbeiträge für die pflegenden Angehörigen aufgerufen. Die belasten die Pflegekasse mit 3,5 Milliarden Euro. Die Politik will das Thema nicht anfassen, weil auch in den anderen Sozialversicherungen munter versicherungsfremde Leistungen in Anspruch genommen werden und eine Änderung den Bundeshaushalt zwangsläufig vor weitere schwere Belastungen stellen würde.
Es wäre also Zeit für eine grundlegende (Gerechtigkeits-)Debatte darüber, wer welche Leistungen übernehmen soll. Das ist nicht nur eine Verhandlung zwischen Bund und Sozialversicherungen. Angesichts der durch die demografische Entwicklung kontinuierlich steigenden Zahlen der Leistungsbezieher und der Leistungsausgaben muss auch eine ehrliche Debatte um Formen der Eigenvorsorge beginnen.