Interview

„Der Austausch mit dem Bund muss besser werden“

Die Herausforderungen in der Gesundheitspolitik bekommt Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping vor Ort hautnah zu spüren. Zu den Reformbaustellen wie der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hat sie teils vom SPD-Parteikollegen Karl Lauterbach abweichende Vorstellungen.

Frau Ministerin Köpping, Sorgen bereitet weiterhin die Finanzlage der GKV. Das Defizit wird Schätzungen zufolge 2024 bei 3,5 bis sieben Milliarden Euro liegen. Erneut sollen die Beiträge steigen, während der Bundesfinanzminister keine neuen Steuermittel lockermachen will. Wie finden Sie das?

Petra Köpping: Ich halte das für den falschen Weg. Fest steht: Bei den Krankenkassen ist nichts mehr zu holen, denn sie haben ja schon im vergangenen Jahr ihre Überschüsse abgeben müssen. Sicherlich kann ein moderater Anstieg des Kassenbeitrags eine Stellschraube sein. Wichtiger ist es für mich aber, über andere Maßnahmen nachzudenken.

Porträt von Petra Köpping, Sächsische Staatsministerin für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Zur Person

Petra Köpping ist seit 2019 Sächsische Staatsministerin für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Davor war sie fünf Jahre Staatsministerin für Gleichstellung und Integration. Von 2009 bis 2020 gehörte die heute 65-Jährige dem Landtag in Dresden an. Die SPD-Politikerin ist studierte Staatsrechtswissenschaftlerin und hatte verschiedene Ämter auf kommunaler Ebene inne. So war die aus Nordhausen stammende Mutter von drei Kindern mehrere Jahre Bürgermeisterin von Großpösna und Landrätin des Landkreises Leipziger Land.

An welche denken Sie?

Köpping: Es muss auf jeden Fall mehr steuerfinanzierte Mittel und Möglichkeiten geben. Bundesfinanzminister Christian Lindner sollte Geld etwa für versicherungsfremde Leistungen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus muss über eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze nachgedacht werden. Menschen, die ordentliche Gehälter haben, können meiner Ansicht nach stär­ker für die Solidargemeinschaft in die Verantwortung genommen werden. Wir sehen an den jüngsten Wahl- und Umfrageergeb­nissen der AfD, dass die Menschen verunsichert sind. Alle Player sollten daher gemeinsam überlegen, wie wir die gute Gesundheitsversorgung in Deutschland aufrechterhalten.

Die Zahl der Pflegebedürftigen wird drastisch steigen. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die seit Anfang Juli geltende Reform?

Köpping: Das Gesetz reicht überhaupt nicht aus und kann nur die erste Stufe sein. In den ostdeutschen Pflegeeinrichtungen legt der Eigenanteil der Pflegebedürften zurzeit um 700 bis 1.000 Euro zu. Das löst viel Unruhe und Besorgnis aus und ist für die meisten Menschen nicht bezahlbar, denn bei uns ist das Durchschnittseinkommen seit Jahrzehnten niedriger als in Westdeutschland. Noch immer beträgt die Differenz im Schnitt 700 Euro im Monat. In den Pflegeberufen war das Gehalt ebenfalls niedrig. Jetzt langsam kommen wir dort zu höheren Löhnen, was richtig und gut ist. Allerdings ist die Folge, dass dadurch die Eigenanteile steigen. Es zeichnet sich bereits ab, dass Familien pflegebedürftige Angehörige allein wegen der Kosten nicht in einem Pflegeheim anmelden. Das kann zur Unterversorgung der Betroffenen führen. Hier hätte die Reform ansetzen sollen.

Wie kann die Lösung aussehen?

Köpping: Wir brauchen eine Deckelung der Eigenbeträge. Die alten Menschen sind stolz auf das, was sie in ihrem Leben erreicht haben. Sie sind glücklich, ihren Angehörigen vielleicht ein Häuschen oder ähnliches hinterlassen zu können. Das wird jetzt alles aufgefressen. Oder die Menschen müssen trotz lebenslanger Arbeit in unwürdiger Weise zum Sozialamt gehen. Bei der Pflege müssen wir wie bei der GKV über steuerfinanzierte Zu­schüsse und die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze reden. Kurzum: Wir brauchen in dieser Legislaturperiode schnell einen dritten großen Schritt in der Pflegereform. Auch der Debatte über eine sogenannte Vollkasko-Pflegeversicherung sollten wir uns nicht verschließen.

Wie ist die Versorgung mit Pflegekräften in Ihrem Bundesland?

Köpping: In Sachsen sind im Jahr 2035 Berechnungen zufolge 25 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt. Es steigt also der Anteil derjenigen, die zu pflegen sind. Und auch die Personen, die selbst pflegen, werden älter. Deswegen brauchen wir bis zum Jahr 2030 allein fast 14.000 zusätzliche Vollzeitbeschäftigte in der Pflege. Das ist eine riesige Herausforderung. Sachsen ist das Bundesland mit der höchsten Anzahl an Pflegeeinrichtungen bundesweit. Das hängt auch mit der Wiedervereinigung zusammen. Viele Menschen im arbeitsfähigen Alter sind weggegangen oder gehen weg und können ihre pflegebedürftigen Angehörigen gar nicht selbst versorgen. Ich ärgere mich sehr, dass dieser Aspekt keine Beachtung findet. Der Bund kann da doch nicht einfach sagen: Das müssen die Länder alleine schultern.

Was tun Sie in Sachsen, um den Bedarf an Pflegepersonal zu decken?

Köpping: An erster Stelle steht die Ausbildung von Pflegefachkräften und in der Pflegehilfe auf einem guten Niveau. Potentiale bestehen noch bei der akademischen Pflegeausbildung. Zudem haben wir seit 2021 ein Modellprojekt zur fairen Anwerbung von Pflegekräften. Sächsische Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen kooperieren zum Beispiel eng mit Brasilien. Von dort haben wir schon knapp 200 Pflegekräfte nach Sachsen geholt. Das läuft sehr gut und die Menschen fühlen sich wohl bei uns. Wir hoffen, dass durch die neuen Vereinfachungen im Zuge des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes noch mehr Menschen nach Sachsen kommen. Unabhängig davon brauchen wir die Anerkennung der Pflegehelfer, die schon viele Jahre in ihrem Beruf gearbeitet haben, aber keinen fachspezifischen Berufsabschluss besitzen. Im Herbst wollen wir eine neue Pflegekampagne auf den Weg bringen. Mit ihr wollen wir deutlich machen, dass sich Vieles im Pflegeberuf zum Besseren verändert hat.

„Wir brauchen in dieser Legislaturperiode schnell einen dritten großen Schritt in der Pflegereform.“

Wie groß ist bei Ihnen in Sachsen das Problem, die ärztliche Versorgung flächendeckend sicherzustellen?

Köpping: Die hausärztliche Versorgung in Sachsen ist derzeit in vielen Gebieten angespannt. Zum Stand 1. April 2023 waren 452,5 Hausarztstellen unbesetzt. Auch bei vielen Fachärzten haben wir Nachwuchsbedarf. Nach der reinen Entwicklung der Anzahl der Ärzte erscheint es so, als könnte es keinen Mangel geben. Wir hatten 1990 rund 12.000 Ärztinnen und Ärzte, heute 19.000. Dennoch haben wir ein Fachkräfteproblem. Eine Ursache ist die älter werdende Bevölkerung und damit die Zunahme der Bedarfe. Für die Ärzte, welche in Rente gehen, benötigen wir mehr Ärzte, um die gleiche Versorgungskapazität sicherzustellen. Junge Mediziner wollen oftmals lieber angestellt arbeiten. Eine eigene Praxis bedeutet mehr Organisationsaufwand. Die Teilzeitquote ist enorm angestiegen. Darüber hinaus ist die alte Niederlassungskarte, die festlegt, wie viele Ärzte sich in einer Region ansiedeln dürfen, überholt. Die Menschen werden älter und haben zugleich andere Anforderungen an die medizinische Versorgung. Bei einem Versorgungsgrad von 100 Prozent erzählen mir die Menschen vor Ort, dass sie trotzdem monatelang keinen Termin bekommen.

Welche Erfahrung haben Sie mit der sächsischen Landarztquote?

Köpping: Das Interesse ist groß. Für das Wintersemester 2023/24 haben sich 119 Kandidatinnen und Kandidaten beworben. Damit hat sich die Anzahl der Bewerbungen im Vergleich zum vergangenen Jahr verdoppelt. Pro Jahr werden auf diese Weise 40 Studienplätze außerhalb des Numerus clausus vergeben. Die späteren Ärztinnen und Ärzte müssen nach ihrem Studium für mindestens zehn Jahre im ländlichen Raum tätig sein. Beim Auswahlverfahren werden daher Aspekte berücksichtigt, die für diese Tätigkeit wichtig sind. Etwa Praxiserfahrung als Pflegerin oder Pfleger. Die meist hochqualifizierten jungen Menschen wissen genau, worauf sie sich einlassen.

Wie sieht es in Sachsen mit ausländischen Medizinern aus?

Köpping: Die stärkste Gruppe sind bei uns Ärztinnen und Ärzte aus Tschechien. Die zweitstärkste Gruppe bilden syrische Ärzte. Bei der Anerkennung von ausländischen Arztabschlüssen versuchen wir, möglichst schnell zu sein und sind im steten fachlichen Austausch mit der vollziehenden Behörde, in welchen Punkten das Verfahren weiter beschleunigt werden könnte. Mit Blick auf den Patientenschutz muss allerdings auch die Qualität der bei uns arbeitenden Mediziner dem Maßstab entsprechen, den wir ansonsten haben. Insofern ist auf beides zu achten. Trotz allem haben wir Regionen in Sachsen, wo wir zurzeit keine Ärzte finden.

Ein Versorgungsthema sind ja die Gesundheitskioske, die Minister Lauterbach per Gesetz stark ausbauen will, um gerade für sozial benachteiligte Gruppen einen besseren Zugang zur Versorgung zu schaffen. Was halten Sie von dem Modell?

Köpping: Nicht viel. In ihrer beschriebenen Form sind die Gesundheitskioske vor allem für Städte mit sozialen Brennpunkten interessant. Im Osten haben wir aber keine Städte wie Hamburg oder Berlin. Unsere Städte sind meist viel kleinteiliger. Daher behelfen wir uns mit anderen Möglichkeiten. Zum Beispiel haben wir in Sachsen internationale Praxen, in denen Ärzte in mehreren Sprachen kommunizieren und in denen Dolmetscher arbeiten. Das passt eher zu uns. Ich fürchte, dass wir bald zu viele Ebenen und Zuständigkeiten haben. In der Folge brauchen wir immer mehr Berater, die uns sagen, wohin wir uns wenden müssen.

„Die hausärztliche Versorgung in Sachsen ist derzeit in vielen Gebieten angespannt.“

Auch die Lieferengpässe bei vielen Medikamenten sind ein großes Thema. Reicht das verabschiedete Gesetz (ALBVVG) von Minister Lauterbach aus, um hier gegenzusteuern?

Köpping: Ich hoffe es, ja. Das Gesetz war sehr wichtig und beinahe überfällig. Es enthält viele richtige Ansätze, die weiterhelfen werden. Eine hoffentlich schnelle Linderung der Probleme wird es bei Kinderarzneimitteln geben, wo Rabattverträge und Festbeträge ausgesetzt werden. Dass es bei Antibiotika-Ausschreibungen künftig auch ein europäisches Los geben muss, wird ebenfalls helfen. Andererseits bin ich auch ein wenig skeptisch. Vermutlich kann das Gesetz nur ein Anfang gewesen sein. Für das langfristige Ziel, einen Teil der Produktion zurück nach Europa zu holen, werden wir einen längeren Atem brauchen. Und ganz sicher weitere Maßnahmen, die an das ALBVVG anknüpfen. Sachsen steht wie die anderen Länder zum Dialog mit dem Bundesgesundheitsministerium und allen Beteiligten bereit, um geeignete Lösungen zu finden.

Es sind ja einige ökonomische Maßnahmen mit dem Gesetz verbunden, die der Versichertengemeinschaft Mehrkosten bescheren dürften – etwa die Erschwernisse beim Abschluss von Rabattverträgen. Ist das für Sie okay?

Köpping: Ich denke schon. Bei den fehlenden Arzneien handelt es sich meist nicht um die ganz teuren Medikamente. Wenn es dort zwischen der Herstellung und der Vermarktung keine Spanne mehr gibt, hat niemand Interesse daran, diese Medikamente noch herzustellen. Ich denke, dass die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, für das ein oder andere Präparat etwas mehr zu bezahlen, wenn dafür die Versorgung stabiler wird. Anders ist die Lage bei sehr teuren Arzneien, wo zuweilen Preis und Zusatznutzen in keinem Verhältnis stehen. An dieses Thema müssen wir gesondert heran.

Was halten Sie von einem Frühwarnsystem gegen Lieferengpässe für alle zulasten der GKV verordneten Medikamente?

Köpping: Von der Sache her finde ich das gut. Meine Sorge ist aber, dass ein riesiges Bürokratiemonster entsteht. Es gibt mehr als 100.000 Medikamente. Eine neue riesige bürokratische Hürde für die Apotheken und die noch hier produzierende pharmazeutische Industrie können wir auf keinen Fall gebrauchen.

Wie zufrieden sind Sie als Ländervertreterin mit dem Austausch mit dem Bund und Ihrem Parteifreund Lauterbach?

Köpping: Da sage ich offen und ehrlich: Der Austausch muss verbessert werden. Und zwar nicht nur, indem öfter gesprochen wird, sondern indem vom Bund die Hinweise, Kritiken und Anregungen der Bundesländer aufgenommen werden. Wenn Gesetze am Ende in den Ländern nicht umgesetzt werden können oder dort zu einem großen Unmut führen, hat niemand etwas gewonnen.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: Sozialministerium Sachsen