Familiengesundheit

Gewalt macht krank

Schreien, Schlagen, sexuelle Nötigung oder sogar Mord: Gewalt in Partnerschaften hat schwerwiegende Folgen. Die Opfer sind überwiegend Frauen – und ihre Kinder leiden mit. Ralf Ruhl gibt einen Überblick über Formen, Ausmaß, Auswirkungen und Prävention häuslicher Gewalt in Deutschland.

Gewalt stellt für Frauen weltweit das höchste Gesundheitsrisiko dar. Das berichtete die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits 2002 in ihrem Report zu gesundheitlichen Auswirkungen von (häuslicher) Gewalt. Das gilt nicht nur in Ländern mit stark traditionellen Rollenbildern und schwach ausgeprägter Gleichstellung der Geschlechter, sondern auch in Europa. Und in Deutschland.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) führt für das Jahr 2022 157.550 Fälle von Gewalt in Partnerschaften auf. Das ist gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um 9,4 Prozent. Wie diese Steigerung zustande kommt und wie sie zu bewerten ist, müssen detaillierte Auswertungen zeigen. Da im Jahr 2021 die Zahlen um insgesamt 2,5 Prozent zurückgegangen waren, kann ein gewisser „Corona-Überhang“ vermutet werden. Schwankungen der Zahlen gab es in den letzten Jahren immer, sie lagen meist jedoch unter fünf Prozent.
 
Die PKS bildet das Anzeigenaufkommen ab und ist die einzige Statistik, die jährlich aufgelegt wird. Das „Dunkelfeld“, also nicht angezeigte Taten, wird in den meisten Schätzungen, die sich auf Befragungen von Fachleuten und Betroffenen stützen, etwa zehnmal höher angegeben. Der Anstieg der Zahlen 2022 kann also auch an einer Aufhellung des Dunkelfelds, also einer höheren Anzeigebereitschaft der Opfer, liegen.

Trennung erhöht das Risiko.

In Deutschland wird häusliche Gewalt meist als Partnerschaftsgewalt verstanden. Dabei ist es unerheblich, ob die Tat im gemeinsamen Wohnzimmer, an der Bushaltestelle oder, beispielsweise nach einer Trennung, beim Abholen der Kinder in der Kita erfolgt. Die aktuelle PKS hat den Begriff der häuslichen Gewalt erweitert. Die PKS erfasst für das Jahr 2022 neben der Partnerschaftsgewalt auch Straftaten „innerfamiliärer Gewalt“, die dann beispielsweise Kinder und andere Verwandte betreffen können.

2022 zählte die PKS 157.818 Opfer von Partnerschaftsgewalt. 80 Prozent der Opfer waren Frauen. Ermittelt wurden 129.332 Tatverdächtige, davon waren 78,3 Prozent männlich und 21,7 Prozent weiblich. Knapp 40 Prozent waren ehemalige Partner und Partnerinnen, über 30 Prozent waren verheiratet und fast 30 Prozent lebten in einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft. Trennung stellt also für Frauen ein erhebliches Risiko dar, Opfer häuslicher Gewalt zu werden.

Verletzungen gehören zu den häufigen Folgen.

Die PKS verzeichnete in der Partnerschaftsgewalt folgende Deliktstruktur (Zahlen über zehn Prozent gerundet): vorsätzliche einfache Körperverletzung (59 Prozent), Bedrohung, Stalking, Nötigung (24 Prozent), gefährliche Körperverletzung (zwölf Prozent), Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexuelle Übergriffe (2,5 Prozent), Mord und Totschlag (0,2 Prozent).

Porträt von Petra Brzank, Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin an der Hochschule Nordhausen

„Häusliche Gewalt könnte auch im Gesundheitssystem erfasst werden“

Wie gelingt Monitoring von häuslicher Gewalt und was ist in Krankenhäusern und Arztpraxen beim Umgang mit Opfern zu beachten? Darüber spricht die Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin Petra Brzank im G+G-Interview und stellt Forderungen an die Gesundheitspolitik.

Bereits an der Deliktstruktur lässt sich ablesen, dass häusliche Gewalt schwere Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen hat. Nach der EU-weiten Erhebung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) von 2014 geben 49 Prozent der Frauen einfache Verletzungen als Gesundheitsfolgen an, 16 Prozent Wunden und Verbrennungen, fünf Prozent Brüche, drei Prozent Gehirnerschütterungen, zwei Prozent innere Verletzungen und ein Prozent Fehlgeburten. Als psychische Folgen nannten die Frauen zu 45 Prozent Probleme in Beziehungen, 43 Prozent das Gefühl der Verletzlichkeit, 36 Prozent Angstzustände, 33 Prozent den Verlust des Selbstvertrauens, 28 Prozent Schlafstörungen, 20 Prozent Depressionen und jeweils 13 Prozent Konzentrationsstörungen und Panikattacken.

Angst führt zu Stressreaktionen.

„Die Verletzungen, die Frauen durch ihre Partner und Ex-Partner erleiden, können sehr schwer sein und langfristige Auswirkungen haben, die sich auch chronifizieren können“, sagt Professorin Petra Brzank, Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin an der Hochschule Nordhausen. Dies werde vor allem genannt für Einschränkungen der Seh-, Hör- und Bewegungsfähigkeit. „Eine zeitnahe und adäquate Behandlung ist daher unbedingt vonnöten“, so Brzank. „Allerdings muss die Verletzung auch als gewaltbedingt erkannt werden. Dann ist die Therapie zusätzlich als sekundäre Prävention einzuordnen.“
 
In diesem Zusammenhang verweist Brzank auf Studien, in denen gewaltbetroffene Frauen doppelt so häufig wie nicht Betroffene ihre Gesundheit als schlecht einschätzen. Eine australische Untersuchung hat gezeigt, dass Gewalt für Frauen ein höheres Gesundheitsrisiko bedeutet als die klassischen Risikofaktoren Rauchen, Adipositas oder hoher Blutdruck. Gewaltausbrüche sind nicht vorhersehbar. Daher leben viele betroffene Frauen in ständiger Angst. Das führt nach einer Studie von Louise McNutt et al. von der Universität Albany (USA) aus dem Jahr 2002 zu Stressreaktionen, die sich in psychosomatischen Beschwerden zeigen, vor allem Schmerzsyndromen in Kopf, Rücken, Brust und Unterleib. Aber auch Magen-Darm-Probleme oder Asthma können dauerhafte Folgen sein.

Angstattacken treten nach physischer oder sexueller Gewalt durch einen aktuellen Partner etwa sechs Mal häufiger auf als bei Frauen, die keine Gewalterfahrung haben. Bei 57 Prozent der Betroffenen sind nach einer Untersuchung von Alison M. Nathanson et al. von der University of Tennessy (USA) aus dem Jahr 2012 posttraumatische Belastungsstörungen zu erkennen, insbesondere ein ständig erhöhtes Erregungsniveau. Die Frauen können demnach kaum mehr entspannen und haben keinen erholsamen Schlaf. Daher fühlen sich viele nicht mehr leistungsfähig und trauen sich nur noch wenig zu.

„Die Brüche und Schnitte an Armen und Händen, die sind irgendwann verheilt. Was aber bleibt, ist die Angst. Er hat gesagt, dass er mich überall findet. Da schrecke ich auch jetzt noch, nach mehr als fünf Jahren, aus dem Schlaf.“

Anna, 34 Jahre*

Dies kann zu Überlebensstrategien führen, die ebenfalls gesundheitsgefährdend sind. „Der Konsum von Alkohol und Drogen ist eine Bewältigungsstrategie“, sagt Brzank. Auch selbstverletzendes Verhalten könne so erklärt werden. Mögliche Gewalterfahrungen sollten daher bei der Behandlung dieser Symptomatiken, insbesondere auch bei der Verschreibung von Beruhigungsmitteln und Antidepressiva, unbedingt beachtet werden. „Depressionen oder Panikattacken – die ja häufig eine Folge von Partnergewalt sind – werden oft mit Psychopharmaka behandelt, anstatt tatsächlich nach den Ursachen zu fragen. Somit werden die Abhängigkeiten zu den gewalttätigen Partnern weiterhin unterstützt.“

Auch Schwangere erleiden Gewalt.

„Wir müssen davon ausgehen, dass wir es häufiger mit Gewalt zu tun haben, als wir es sehen oder wahrhaben wollen“, sagt Martina Kruse. Sie ist Teamkoordinatorin bei den Frühen Hilfen in Kerpen und arbeitet als Familienhebamme und traumazentrierte Fachberaterin. Das gelte auch für die Zeit der Schwangerschaft.
 
Genaue Zahlen, wie häufig schwangere Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, gibt es nicht. „Aber die Ohrfeige, Verletzungen durch Schubsen und daraus folgende Stürze und sogar der Tritt in den Bauch sind gar nicht so selten“, sagt Kruse. „Mutter und Kind sind während der Schwangerschaft ja intensiv verbunden, sie sind eins. Deshalb wird das Kind, wird der Fötus immer ebenfalls geschädigt, wenn der Mutter Schaden zugefügt wird.“ Auch der Stress, dem eine Frau während der Schwangerschaft durch einen kontrollierenden oder psychisch gewalttätigen Mann ausgesetzt sei, wirke auf den Fötus. „Ein erhöhtes Niveau von Stresshormonen lässt sich schon bei Ungeborenen nachweisen.“

„Ich habe mich viel geprügelt als Jugendlicher. Schon mit zwölf Jahren war ich von drei Schulen geflogen. Ich konnte gar nicht anders, ich konnte nur mit Aggression anderen begegnen, egal ob Kids oder Erwachsenen. Eine andere Nähe kannte ich nicht.“

Ricardo, heute 28*

Außerdem hört Kruse in Gesprächen mit werdenden oder jungen Müttern immer wieder, dass die Frauen sich zu einer Schwangerschaft genötigt gefühlt hatten, dass sie von ihrem Partner oder auch dessen Familie unter Druck gesetzt worden seien, ein Kind zu bekommen. „Das geht so weit, dass Verhütungsmittel vorenthalten werden oder der Partner zu allen Vorsorgeuntersuchungen mitkommt und die Frau nie allein lässt, sich also kontrollierend verhält“, sagt Kruse.

Sicherheit vermitteln.

Hebamme oder Gynäkologin sind meist die ersten Ansprechpartnerinnen für die Schwangere. Denn alle Frauen in Deutschland gehen zu den Vorsorgeuntersuchungen. „Wenn Termine nicht wahrgenommen oder immer wieder verschoben werden, kann das schon ein Hinweis auf eine Gewaltbeziehung sein“, so Kruse.
 
Es sei wichtig, dass die Akteurinnen des Gesundheitswesens hier gut ausgebildet seien. „Eine Ansprache, die feinfühlig ist, aber gleichzeitig auch Sicherheit vermittelt, ist für die Schwangeren wesentlich.“ Nach der Aufklärung über das, was in der Schwangerschaft gerade passiere und was in der nächsten Zeit auf die Frauen zukommen werde, sei auch ein Gespräch über das allgemeine Grundgefühl während der Schwangerschaft und über Ängste möglich. Kruse plädiert dafür, dem medizinischen Personal bereits in der Ausbildung ein Grundverständnis für Traumata zu vermitteln, ebenso für die Kommunikation mit besonders verletzlichen Menschen. Dazu gehören Schwangere aus Hochrisikogruppen, vor allem Frauen, die bereits Gewalt erfahren haben.
 
Nach einer Untersuchung von Kerstin Weidner von der Universität Dresden aus 2018 zeigen 15,7 Prozent der Mütter in Hochrisikogruppen Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Bei den nicht vorbelasteten Müttern sind es drei Prozent. „Außerdem besteht“, so Kruse, „ein erhöhtes Risiko, dass misshandelte Eltern ihre Kinder ebenfalls misshandeln – auch wenn sie nie wiederholen wollten, was ihnen passiert ist.“ Sensible Ansprache und das Weitergeben von Informationen über das Hilfesystem können hier präventiv wirken.

Gewalterleben gefährdet Kindeswohl.

Kinder leiden langfristig unter den Folgen häuslicher Gewalt. Werden sie selbst verprügelt oder bedroht, wurde das bis zum Berichtsjahr 2021 in der PKS nicht als häusliche Gewalt gezählt. Aber das Miterleben von Gewalttaten gilt als Kindeswohlgefährdung. Sobald die Polizei bei einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt erfährt, dass minderjährige Kinder im Haushalt leben, muss sie das Jugendamt informieren. Das Amt muss die Gefährdung einschätzen und aktiv werden. In welcher Form, das obliegt der Behörde.

Gewalt bedeutet für Frauen ein höheres Gesundheitsrisiko als die klassischen Risikofaktoren Rauchen, Adipositas oder hoher Blutdruck.

Es ist jedoch fraglich, ob das Bild des prügelnden Vaters und der erduldenden Mutter in dieser Form aufrechterhalten werden kann. In der FRA-Studie wurden 15-jährige Mädchen nach in Kindheit und Jugend erlittener Gewalt befragt. 55 Prozent gaben den Vater als Täter an, 46 Prozent die Mutter, wobei Mehrfachnennungen möglich waren. Es scheint in vielen Fällen angebracht, von Gewaltfamilien zu sprechen. Die Kinder wachsen in diesen Familien in einer Atmosphäre von Gewalt auf und reagieren mit Angst. „Grundsätzlich bekommen Kinder die Gewalt immer mit“, sagt Familienhebamme Kruse. Aussagen wie „Die haben doch geschlafen“ oder „Wir haben immer darauf geachtet, dass sie in einem anderen Zimmer waren“ sieht sie als Beschönigung und Verschleierung an. Dies könne jedoch auch in der Scham der Eltern seinen Ursprung haben. „Je kleiner sie sind, desto stärker erleben Kinder Gewalt gegen die Mutter als Gewalt gegen sich selbst“, so Kruse. Die Kinder seien wachsam, würden auf mögliche Vorboten von Gewalt achten. So versuchten sie, sich auf Eskalationen einzustellen.

Entwicklungsverzögerungen nachgewiesen.

Es gibt nur wenige Untersuchungen, die gesundheitliche Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf Kinder quantitativ erfassen. Eine Studie von Anna Olofsson von der Universität Sundsvall in Schweden aus dem Jahr 2011 weist nach, dass bei betroffenen Kindern unter sechs Jahren Kopf- und Bauchschmerzen, Essstörungen und diffuses Schmerzempfinden deutlich häufiger auftraten als bei älteren. Entwicklungsverzögerungen sowohl im motorischen als auch im sprachlichen Bereich werden mehrfach beschrieben.
 
Eine bei der Landesstiftung Baden-Württemberg veröffentlichen Studie von Barbara Kavemann und Corinna Seith aus dem Jahr 2007 belegt geschlechtsspezifische Unterschiede in den Versuchen, das Gewalterlebnis zu verarbeiten. Bei Mädchen beobachteten die Forscherinnen in stärkerem Maße Angst, Kontaktvermeidung und Rückzug, Selbstschädigung bis hin zur Selbstverletzung. Bei Jungen hingegen eine erhöhte Aggressivität, Gewaltverhalten und Bedrohungsrituale sowie eine Abwertung von Mädchen und Frauen.

Resilienzfaktoren stärken.

„Da müssen wir aufpassen, dass wir mit unseren Reaktionen auf die Kinder und Jugendlichen nicht die alten Geschlechterklischees fortführen“, sagt Boris von Heesen. Der Geschäftsführer eines Jugendhilfeträgers berät Männer in Lebenskrisen. So würden Jungen, die aggressives Verhalten zeigten, üblicherweise negativ sanktioniert und erhielten keine empathische Zuwendung. „Möglicherweise steckt aber auch eine Opfererfahrung dahinter, das sollten wir im Auge behalten.“ Von Heesen plädiert dafür, Resilienzfaktoren bei Kindern und Jugendlichen zu stärken. Und das bedeute vor allem den Aufbau von sicheren und verlässlichen Bindungen zu Erwachsenen, aber auch zu Gleichaltrigen und Freunden.

„Sie hat eine Kanne mit heißem Kaffee nach mir geworfen, gebrüllt, gesagt, dass ich die Kinder nie wiedersehe, wenn ich jemandem etwas sage. Aber das ist doch normal in einer Ehe, also alles im Grünen.“

Ewald, 54*

Für medizinisches Personal heißt das, zunächst äußere Sicherheit herzustellen. Der Ablauf von Gesprächen und Untersuchungen kann emotionale Sicherheit vermitteln, wenn er vorhersehbar ist, wenn klar kommuniziert wird, was geschieht und selbstverständlich das Einverständnis für jeden Schritt der Untersuchung oder Behandlung bei den Kindern und Jugendlichen eingeholt wird.

Männer können auch Opfer sein.

Männer machen laut PKS über 85 Prozent der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten aus. Und in fast allen Bereichen der Gewaltkriminalität sind Männer signifikant stärker betroffen als Frauen – allerdings vor allem durch andere Männer. Nur in den Feldern, die zu häuslicher Gewalt gezählt werden, insbesondere bei sexueller Gewalt, ist das, wie anfangs dargestellt, anders. „Männliche Opfererfahrungen sind immer noch ein Tabuthema“, sagt von Heesen, „sie bleiben im öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet.“
 
Dies wirke auf die einzelnen Männer. Viele würden das, was ihnen angetan wird, lange Zeit nicht als Gewalt begreifen. „Die Schwelle, sich jemandem anzuvertrauen, ist für Männer immens hoch.“ Gründe dafür seien Scham und auch die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Eine repräsentative Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen von 2014 zeigt, dass drei Viertel der Männer, die von häuslicher Gewalt betroffen waren, mit niemandem darüber sprachen. Demgegenüber vertrauten sich 54 Prozent der Frauen wenigstens einer Person an.

Mehr Zufluchtsstätten bieten.

In absoluten Zahlen wurden laut PKS 2022 mehr als 31.000 Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt. Zufluchtsstätten für sie gibt es kaum. Die Koordinierungsstelle Männergewaltschutz listet zwölf Schutzwohnungen mit insgesamt 43 Plätzen auf. Fünf davon liegen in Nordrhein-Westfalen, in vielen Bundesländern gibt es keine einzige Einrichtung. Der Bedarf ist vorhanden. Laut Koordinierungsstelle liegt die Auslastung bei über 70 Prozent. Auch das Hilfetelefon „Gewalt gegen Männer“ meldet konstant hohe Zahlen. Drei Jahre nach seiner Einrichtung rufen dort pro Monat etwa 4.500 Männer an.

„An den Schritten habe ich schon gehört, dass es bald wieder losgeht. Mama hat mich dann aus dem Zimmer geschickt, ich bin ins Bett und habe die Decke über den Kopf gezogen. Ich wollte einfach nur, dass es aufhört, das Geschrei und das Krachen. Manchmal habe ich auch gegen die Wand geboxt.“

Valerie, damals 5 Jahre*

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Lage für Zuflucht suchende Frauen keineswegs komfortabler ist. Im Gegenteil: Nach einer Studie von correctiv.org in 13 Bundesländern betrug die durchschnittliche Belegungsquote der Frauenhäuser im Jahr 2022 83 Prozent. Das bedeutet, dass an 303 Tagen wegen Vollbelegung keine Aufnahme möglich war. Laut Correctiv.org erfüllen mit Bremen und Berlin nur zwei Bundesländer die Quotenanforderungen des Europararats von einem Frauenhausplatz pro 7.500 Einwohner.

Spezifische Ansprache erforderlich.

„Häusliche Gewalt gegen Männer ist in Deutschland eine große Forschungslücke“, so von Heesen. Es gibt keine nationale Prävalenzstudie, obwohl dies seit der nicht repräsentativen Pilotstudie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums von 2004 immer wieder angemahnt wurde. Demnach geben Männer vor allem an, psychische Gewalt zu erleben (41 Prozent), ebenso sozialer und finanzieller Kontrolle ausgesetzt zu sein (39 Prozent). Demgegenüber machen körperliche Gewalt mit 27 Prozent und sexuelle Gewalt mit 4,7 Prozent einen eher geringen Teil aus.

  • Frauen gegen Gewalt: Website des Bundesverbandes der Frauen­beratungsstellen und Frauennotrufe
  • Männergewaltschutz: Website der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz
  • Frauenhauskoordinierung
  • Signal Intervention: Website des Vereins Signal e.V. – Intervention im Gesundheitsbereich gegen häusliche und sexualisierte Gewalt; hier verfügbar: Handlungsleitfäden und Handbücher für die gesundheitliche Versorgung
  • Youtube-Kanal „Täterberatung Häusliche Gewalt“
  • Präventionsprogramm der AOK Nordost
  • Petra Brzank: Wege aus der Partnergewalt. Springer, 2012.
  • Sylvia Sacco: Häusliche Gewalt – Kostenstudie für Deutschland. Tredition, 2017.
  • Boris von Heesen: Was Männer kosten. Heyne, 2022.
  • Martina Kruse: Traumatisierte Frauen begleiten. Hippokrates, 2017.

Die PKS zeichnet ein anderes Bild. Körperverletzung steht hiernach mit über 22.000 Fällen an erster Stelle, gefolgt von Bedrohung, Stalking und Nötigung mit insgesamt weniger als 4.000 Fällen. „Männer erleben alle Formen von häuslicher Gewalt“, sagt von Heesen. Es sei jedoch deutlich, dass sie seltener als Frauen von schwerer und sexueller Gewalt betroffen seien, allerdings – wie auch Frauen – psychische Gewalt selten anzeigten. Entsprechend sei es notwendig, überhaupt erst einmal eine verlässliche und entsprechend finanzierte Struktur von Beratungs- und Schutzeinrichtungen für männliche Gewaltopfer aufzubauen. „Das Bild des Tyrannen, der die Familie unter der Knute hat, ist sehr eindimensional“, so von Heesen. Insbesondere in Fällen situativer Gewalt, in der beide Partner sich hochschaukeln, würde es weder das Erleben der Männer noch das der Kinder abbilden. Dennoch hätten Männer das Gefühl, sich immer noch und in fast jeder Situation als stark darstellen und jeden Anschein des Opfer-Seins vermeiden zu müssen. „Männer brauchen auch im Gesundheitsbereich eine spezifische Ansprache, die um diese Zwickmühle, in der sich Männer befinden, weiß und ihnen mit Empathie hilft sich zu öffnen.“

Gewalt verursacht hohe Kosten.

46,50 Euro zahlt jeder Bundesbürger für die Folgen häuslicher Gewalt. Berechnet auf alle Personen im erwerbsfähigen Alter ergibt sich ein Betrag von 74 Euro. Pro Jahr und Nase. Das hat Sylvia Sacco errechnet in der ersten bundesweiten Kostenstudie zu häuslicher Gewalt. Das war im Jahr 2017, also noch vor Corona und vor der Teuerungswelle. Sacco hat eine Gesamtsumme von 3,8 Milliarden Euro ermittelt. Sie teilen sich auf in direkte und indirekt tangible Kosten. Für das Gesundheitswesen schlägt eine Summe von rund einer Milliarde Euro an direkt tangiblen Kosten zu Buche. Davon entfallen auf die Erstversorgung 287,2 Millionen, die Behandlung psychischer Erkrankungen 9,1 Millionen, die Versorgung bei Suizidversuchen 144,6 Millionen. Hinzu kommen 563,1 Millionen für die Behandlung von Traumafolgen bei Kindern. „Da ist entschiedenes und langfristiges Handeln gefragt“, so von Heesen. Das gilt auch für den Ausbau der Prävention. Denn über Schulen und Kitas erhalten die Jugendämter einen großen Teil der Meldungen über Kindeswohlgefährdungen. Die lagen laut Statistischem Bundesamt 2021 mit rund 60.000 ungefähr auf dem Niveau des Vorjahres. Die Fälle, in denen die Behörde einen Hilfebedarf festgestellt hat, sind um etwa zwei Prozent gestiegen auf fast 67.700.

Häusliche Gewalt erkennen.

In der Prävention ist die AOK Nordost beispielhaft aktiv. Sie bietet für Berliner Lehrpersonal und Schulsozialarbeiter eine insgesamt sechsstündige Fortbildung an. Aufgrund der Einbindung in das Programm „Gute gesunde Schule“ ist sie kostenfrei. Der Verein BIG e.V. schult pädagogische Fachkräfte darin, häusliche Gewalt als Kindeswohlgefährdung besser zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren. Entscheidungs- und Handlungskompetenzen werden gestärkt. Dazu gehören auch Gesprächsführung mit Eltern in dieser besonderen Situation sowie Maßnahmen zur Erhaltung der seelischen Gesundheit. Dies fordert von den Lehrkräften ein hohes Maß an persönlichem Engagement. Denn die Kinder und Jugendlichen brauchen, wie oben gezeigt, verlässliche Bindungspersonen. Dann haben sie die Chance, mit ihrem Trauma leben zu lernen und ihr Leben erfolgreich in die Hand zu nehmen.

* Zitate aus der Beratungspraxis des Autors; Namen verändert

Ralf Ruhl ist freier Journalist mit Schwerpunkt auf Männer- und Familienthemen. Er arbeitet zudem in der Männerberatung der AWO Werra-Meißner e.V.
Bildnachweis: iStock.com/Natalya Denisova, Hochschule Nordhausen/Bergknapp